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Der große Pustefix

Die Wetterlage ist seit Wochen stabil: Ein blockierendes Hoch nördlich von Schottland sorgt beharrlich für Trockenheit, Knallsonne und nördlichen Wind. An einem windgeschützten Plätzchen im Hafen fühlt es sich sommerlich an – und die Gäste freuen sich auf eine Woche unbeschwerten Schönwettersegelns. Doch gegen Ende des Törns werden wir eine neue Wetterlage bekommen. Noch ist unklar, ob uns dann einfach nur Westwind oder der Große Pustefix erwartet.

Mai 2025

Abgesehen davon, dass endlose Trockenheit eine ökologische Katastrophe bedeutet, bin ich aber nicht vollends zufrieden mit der Witterung. Nördlicher Wind ist immer eine ungünstige Richtung. Außerdem ist er ziemlich kalt. Unter Land sorgt die Thermik ab mittags für ruppige Böen. Ab achtzehn Uhr beruhigen sie sich, dafür wird es bis zum Morgen oft unangenehm kühl. Das sind alles durchaus Einschränkungen für die Törnplanung – und für mein Wohlbefinden, der Nacken ist immer noch verspannt, sorgt weiterhin für Kopfschmerzattacken, Segeln ist eigentlich Gift für mich. Den Törn absagen? In einer besonders schlimmen Nacht denke ich kurz darüber nach. Doch Kampferlotion, Wärmepflaster, Wärmflasche, meine wärmste Daunenjacke und eine Packung Schmerztabletten als Backup werden mich irgendwie durch die Woche bringen, so wie schon durch die letzte Woche und die Woche davor. Über eine neue Wetterlage bin ich grundsätzlich nicht böse.

Wie vor jedem Flottillentörn, zerbreche ich mir tagelang den Kopf: Wie schaffen wir den Absprung? Die Gäste kommen zum Segeln, nicht dazu, nur übers Segeln zu reden, während sie in Arnis rumhängen. Doch sie müssen zunächst alle anreisen, Einweisungen und Briefing müssen erledigt sein – frühestens dann können wir auslaufen. Wir wollen gerade am ersten Tag niemanden mit furchtbarem Wind überfordern, und ich möchte auch jegliche Eile und Hektik tunlichst vermeiden. Da ist aber auch das Problem, dass uns die Brücke einen Stundentakt aufzwingt. Jenseits der Brücke: Noch eine Stunde Schlei. Wann erreichen wir Schleimünde? Was geht dann überhaupt noch? Welches Ziel bietet einen guten Ausgangspunkt für die nächsten Tage? Am Freitagabend hat sich mein Eifer erheblich beruhigt, denn für Samstag sieht es nach viel zu dollen Böen aus, um mehr als Maasholm zu schaffen. Und das geht entspannt am späteren Nachmittag allemahl besser als unter Zeitdruck am frühen Morgen. Die Gäste können also in Ruhe ankommen.

Peter und Sönke sind zum dritten Mal dabei. Sie reisen bewusst so an, dass sie nicht noch lange aufs Auslaufen warten müssen: Um zehn Uhr sind sie im Hafen, um elf ist Martha segelklar, und wir treffen uns zum Briefing. Dazwischen bekommt Nicole ihre Einweisung. Sie macht einen kundigen, patenten Eindruck, doch das muss sie auch: Einhanderfahrung hat sie bisher nur auf ihrem Jollenkreuzer am Steinhuder Meer, ein Folkeboot segelt sie zum ersten Mal. In einer Stunde muss sie einen Berg von Informationen verarbeiten: Segelsetzen, Segelbergen, Außenborder, An- und Ablegen, dazu die tausend Tipps zum Einhandsegeln – sie wird sich das nicht alles merken können. Hoffentlich bleibt jedenfalls das Wichtigste im Kopf.

Tonio hat ihr gegenüber schon zwei Tage Vorsprung. Seine Vorerfahrung: Jolle und Mitsegeln. Aber er hat ein Training gebucht (mein Kommentar nach dem Anlegen: „Ich hab ein weiteres Opfer müdegesgelt“). Er ist lobenswert vorsichtig und umsichtig. Geht bei jedem Manöver sämtliche Handgriffe gedanklich durch, bevor er die Pinne verlässt und sich an die Arbeit macht. Auf den ersten Blick dauert das total lange – aber so ist er schneller, als wenn er zwischendurch immer etwas wichtiges vergäße und die Aktion im ersten Anlauf schiefginge. Dass er zum Setzen des Groß die Schot aufmachen muss, bevor er an den Mast geht, ist das letzte Detail, dass er sich irgendwie einzementieren muss. Außerdem begleitet uns wieder Christian mit Liv und neuem Mitsegler Titus. Gebucht ist auch Salty, doch Andreas muss sich um seinen erkrankten Vater kümmern – was sehr schade ist, aber nicht zu ändern.

Samstagmorgen sieht die Windwelt plötzlich komplett anders aus: Nachmittags von Nord auf Nordost drehend, Böen höchstens 5 Beaufort bis zum Abend – nix Maasholm, wir können Hørup Hav locker schaffen, auch ohne uns furchtbar zu beeilen. Meine Rechnung geht so: Einweisung für Nicole um neun Uhr, Briefing für die ganze Gruppe gegen elf, Auslaufen kurz vor eins, Brücke um zwanzig vor zwei, fünfzehn Uhr Schleimünde. Tonio braucht, das wissen wir schon, reichlich Platz, um in Ruhe Segel zu setzen. Für Nicole dürfte zumindest zu Beginn das Gleiche gelten. Wo gibt es den? Ich empfehle, bis hinter Rabelsund zu motoren und dann auf dem freien Stück zwischen dort und Maasholm stressfrei die Segel zu setzen.

Überpünktlich um Viertel vor drei erreichen die fünf Boote dicht zusammen Schleimünde. Wir segeln eine Meile nach Nordosten, dann wendet Paula und kann die Flensburger Förde anlegen. Der Kurs passt also. Der Speed nicht: Drei Knoten sind ein bisschen mau. Schaffen wir Hørup jedenfalls im Hellen? Sollen wir gleich umkehren nach Maasholm? Ich fange an zu rechnen – aha, einundzwanzig Uhr, wenn es so bleibt, genau zu Sonnenuntergang. Dürfte ein bisschen kühl werden, aber ich sehe kein Risiko.

Zunächst wird es noch langsamer. Nach einer Stunde kommt die Brise auf, mit der ich gerechnet habe. Nordost 4 Böen 5 bringt uns wunderbar nach Kalkgrund, eine knackige Kreuz zum Hafen, kurz nach siebzehn Uhr findet Paula eine Ecke, wo wir alle zusammen liegen können. Das Anlegen gelingt ziemlich gesittet für den ersten Tag. Aus dem Programm für Sonntag mache ich erstmal ein Geheimnis – Briefing morgens um neun, jetzt erstmal ausruhen und genießen.

Weiter nach Norden durch den Als Sund? Macht bei Nord, Nordwest drehend, keinen wirklichen Sinn. Wir segeln rüber nach Marstal. Südlich von Kegnæs und dann über den Belt bis Vejsnæs Nakke geht es bei halbem Wind zügig ohne große Schwierigkeiten. Südlich von Æerø pustet es uns auf einmal mächtig entgegen. Mit einem Dreher auf Nordost und sechser Böen war hier zu rechnen, doch jetzt. wo sie da sind, gefällt mir die Idee des Anlegens ohne jegliche Abdeckung ausgesprochen schlecht. Leider gibt es keine Alternative, also segeln wir weiter – und in der Sønderrende sind es auf einmal nur noch stetige vier Windstärken. Bei Nordnordost bekommen wir zumindest ein Mychen Abdeckung vom Kalkofen und der Riggs an den nördlichen Stegen. An Bro 8 finden wir genauso viele benachbarte Boxen, wie wir brauchen.

Paula und ich versetzen die Stegnachbarn zunächst in große Aufregung: Wir segeln zwischen Bro 9 und der Pfahlreihe durch, damit der Aufschießer ein bisschen länger wird. Er endet – nun, da wo wir zum stehen kommen. Das heißt nicht, dass dort auch unser Liegeplatz ist, doch die Leute drängeln sich, um irgendwelche Leinen anzunehmen. Paula geht schon wieder ihrem neuen Hobby nach und stoppt ein Zoll vom Pfahl entfernt auf. Tunlichst gebe ich etwas Lose auf die Vorleine, um sie nicht doch noch an den Pfahl zu ziehen. Dann berge ich erstmal das Groß, verhangele sie zum Liegeplatz und parke sie ein.

Das Anlegen der weiteren Boote macht Eindruck: Eins nach dem anderen legt sich erstmal an einen Pfahl, dann machen wir perfektes Teamwork aus dem Rest, reichen die Vorleine vom Heck des Nachbarbootes zum Steg weiter, ziehen alle von Hand an ihre Plätze. Das auch noch ohne Adrenalinstöße und Geschrei. Nicole hat die für sie neue Idee, zuerst am Pfahl festzumachen, noch nicht verinnerlicht – Frieda treibt gleich in die Box. Aber sobald ich, auf Olis Heck stehend, die Vorleine habe, kann ich das alles regeln. Und Nicole ist dankbar für den Hinweis, wie es künftig noch eine Spur einfacher und stressfreier gehen wird. Beim Bergen des Großsegels hat irgendetwas gehakt – Tonio hat eine Idee, welchen Fehler sie vermutlich gemacht hat. Er erklärt es ihr, während sie nacheinander beide Boote gemeinsam aufklaren. Kaum zu glauben, dass die Gäste sich erst seit gestern Vormittag kennen - ich finde es großartig, wenn eine Gruppe so funktioniert.

Das eigentliche Segeln ist für niemanden ein Problem: Auf den bisherigen 54 Meilen sind wir dicht zusammengeblieben, niemand ist zurückgefallen oder auf Abwege geraten. Die Begeisterung über die durchaus langen, aber tollen, abwechslungsreichen Segeltage ist riesig. Ich finde aber, dass wir bisher fast ausschließlich gesegelt sind, unterbrochen nur von kurzer Nahrungsaufnahme und ein paar Stunden Schlaf. Nun wird es wohl Zeit, sich auch mal ein bisschen die Gegend anzugucken, ein wenig auszuruhen und die vielen Eindrücke zu sortieren. Passend dazu verspricht DMI für den Montag Wind nur bis mittags und anschließend Flaute. Wir sollen uns also sowieso nicht zu viel Segeln vornehmen.

Wir laufen zeitig aus. Eine hübsche Brise von 3-4 aus Nord beschert uns eine wunderbare Kreuz durchs Mørkedyb, dann fallen wir ab nach Ærøskøbing. Es sind nur neun Seemeilen, doch die machen schon wieder Riesenlaune. Und dann erwartet der Ort uns in ruhiger, entspannter Bestform. Es ist noch so sehr Vorsaison, dass die Betonnung rüber zum Yachthafen noch gar nicht ausliegt. Wir haben einen ganzen Steg für uns alleine. Und Zeit für Stadtbummel, Eisessen, Einkauf, Besuch bei den Badehäusern, Mittagsstunde… Sönke organisiert abends gemeinsames Grillen. Vorab erledigen wir das Briefing für den Dienstag.

Inzwischen wird der Wetterumschwung konkreter. Auch die Gäste haben sich bereits informiert – eine Rückkehr an die Schlei schon am Dienstag steht als Option bereits im Raum. Und so machen wir es auch: Dienstag West 4-5, das ist super, doch dann folgen am Mittwoch West 6-7, Donnerstag West 6-8 bei nur noch einstelligen Höchsttemperaturen und nachfolgend Regen- und Hagelschauer – ich möchte nicht darauf spekulieren, dass uns am Freitag eine traumhafte Brise nach Hause spülen wird. Wie gut, dass wir Samstag nicht nur nach Maasholm gefahren sind, denn jetzt ist das beinahe die einzige Option.

Natürlich entgeht uns so ein Besuch auf einer der kleinen Inseln, in einem der gemütlichen Häfen, die wir um diese Jahreszeit komplett für uns haben würden anstatt nur einen von mehreren Stegen. Immerhin packen wir seglerisch in diese vier Tage alles rein, was Spaß macht. Bevor wir von Skjoldnæs bis Schleimünde den perfekten Anlieger bekommen, müssen wir nämlich nordöstlich von Ærø wacker kreuzen. Erstmals zieht sich unser Feld erheblich auseinander. Liv ist die ganze Zeit schon mächtig schnell mit dem glatten GFK-Rumpf, den neuen Segeln und Christians gewachsenen Trimmkenntnissen – doch später im Hafen beklagt er, dass Liv sich nur zufällig deutlich absetzen konnte. Er möchte gerne wissen, was gut und richtig ist.

An dieser Stelle bringe ich den Begriff des Streckbuges ins Gespräch: Wenn das Ziel einer Kreuz nicht genau in Luv liegt, gibt es einen Bug, der uns dem Ziel dichter bringt. Das ist der Streckbug. Der Holebug entfernt uns eher noch vom Ziel und dient erstmal nur dazu, ein bisschen Höhe rauszusegeln, um Hindernissen auf dem Streckschlag auszuweichen. Für die folgende Überlegung lassen wir außer Acht, dass vielleicht an diesem Ufer mehr Wind ist als am anderen – das wissen oft nur die locals, für Ortsfremde ist es pure Spekulation. Die Faustregel lautet: Wenn du einen Streckbug hast, sollst du ihn solange wie möglich fahren.

Warum das? Im schlechtesten Fall bleibt die Windrichtung die ganze Strecke über konstant. Dann macht es keinen Unterschied, ob man früher wendet oder später, ob man viele kurze Schläge fährt oder wenige lange. Dreht aber der Wind im Laufe der Zeit günstiger, führt der Streckbug immer näher zum Ziel, und der eine oder andere Holeschlag wird unnötig – dumm, wenn man ihn dann schon längst gefahren ist. Aber wenn der Wind ungünstig dreht, wird zwar der Streckbug schlechter, dafür aber der Kurs auf dem Holeschlag erheblich besser – und wiederum ist es Pech, wenn man diesen Holeschlag schon vorher gefahren ist, dann noch mit dem schlechteren Kurs.

In unserem Fall wäre der direkte Kurs an der Ostseite von Ærø entlang bis Skjoldnæs, aber den können wir nicht laufen. Die Hindernisse sind die Ufer von Drejø und Avernakø. Wenn überhaupt, könnte ich mir vorstellen, dass dich an Ærø weniger Wind ist als mitten im Becken oder näher an den kleineren Inseln. Martha fährt den ersten Holeschlag gleich nach Verlassen der Rinne von Ærøskøbing. Frieda und Liv auf halber Strecke rüber nach Drejø. Oliese ist am dichtesten an Paula, Tonio orientiert sich ein bisschen an uns, aber er weiß genauso wenig wie Christian, warum wir so segeln und wenden, wie wir es tun.

Der Kurs wird besser und besser. Zuletzt liegt uns Skoven, der nordwestliche Zipfel von Drejø, ein bisschen im Weg. Paula wendet, wir fahren einen Mini-Holeschlag bei Mads Jensens Grund, der uns nur eben von der Untiefe freibringt. Dann wenden wir zurück auf den Streckbug. Der Wind schwächelt vorübergehend, aber das scheint überall gleich zu sein. Nun muss man sich natürlich von einem Trimm befreien, der für stramme fünf Windstärken gedacht war: Unterliek ein bisschen auf, Traveller ein Stück nach Luv, vielleicht auch noch die Fockholepunkte nach vorne (ich verzichte darauf, das wird sonst später mühsam, wenn es westlich von Ærø ordentlich pustet).

Als es am Damm zwischen Avernakø und Korshavn flach wird, kann Paula nach der Wende Skjoldnæs bequem anlegen. Oli bleibt uns in respektvollem Abstand auf den Fersen, Martha und Frieda stampfen vor Søby herum. Liv fährt den Streckschlag unnötig weit aus, bevor sie wendet. Das entpuppt sich als Vorteil, als direkt am Leuchtturm der Wind ein letztes Mal schwächelt und die Welle aus dem Kleinen Belt gehörig bremst – Liv kann abfallen und saust davon. Als wir auf Südwestkurs gehen, ist hinter uns nur noch Oliese zu sehen.

Kurz vor der Flensburger Förde, inzwischen sind es stetige fünf Beaufort, hoppelt uns die Welle unangenehm entgegen. Ab Pøls Rev ist das sofort vorbei, es segelt sich höchst angenehm in Rauschefahrt. Die knapp zwei Meilen Schlei bis Maasholm müssen wir natürlich kreuzen. Tonio erkundigt sich, ob man das auch motoren kann. „Klar“, sage ich, „ist aber extrem nervig.“ Oli kreuzt.



Sonst entscheiden wir uns meistens für die Modersitzki-Werft, heute scheint mir der große Yachthafen günstiger: Der stramme Westwind mit sechser Böen steht auf beiden ungebremst drauf, aber ich weiß aus Erfahrung, dass am östlichsten Steg freie Liegeplätze in Folkebootgröße zu erwarten sind – und dort bieten uns die ganzen Riggs in Luv eine Menge willkommene Abdeckung. Paula macht sich einen Spaß daraus, eine Chartercrew zu erschrecken: Die sind mit Liegeplatzsuche im engen Hafen schon überfordert, auf ein vor Topp und Takel vorbeisausendes Folkeboot nicht eingestellt. Unseren Liegeplatz hat Christian schon ausgespäht, wir hangeln uns rein. Gelungener Tag!

*

Wir haben ihn gut und sicher abgewettert, den Großen Pustefix. Zwei Hafentage in Maasholm sind aus meiner Sicht unbefriedigend, doch die Gäste fühlen sich hier genauso im Urlaub wie in dänischen Gewässern. Und wir können uns gut beschäftigen. Am Freitag erweist sich die Entscheidung zur frühen Rückkehr an die Schlei als genau richtig: Ab mittags Schauer mit ruppigen Böen bedeuten ein kurzes Zeitfenster – jetzt noch ganz von Mommark oder Lyø zurückzumüssen, wäre doof gewesen. Nun jedoch genießen wir die Morgensonne und kreuzen bei stetigen drei Beaufort völlig entspannt durch Rabelsund. Punktlandung an der Brücke, wir lassen die Segel einfach stehen, geben kurz Vollgas und genießen auch noch die allerletzte Meile - ein würdiger Abschluss einer richtig gelungenen Woche.



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