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Regent's Canal

London kurz vor Weihnachten: An meinen drei Urlaubstagen möchte ich etwas völlig anderes machen, erleben und denken möchte, als was mich den Rest des Jahres beschäftigt. Es lässt sich nicht ganz durchhalten – plötzlich bin ich wie so oft in jedem Sommer derjenige, der das Boot anbindet, weil die Crew es nicht schafft.

Dezember 2023

Royal Airforce Museum, Matilda the Musical, U-Bahn Fahren und viel Rumlaufen und Fotografieren, hauptsächlich zwischen Bloomsbury und King’s Cross. Ich habe mir einen vielfältigen Speiseplan ausgedacht: Das englische Frühstück im Hotel ist ausgezeichnet. Ich habe ein ugandisches Restaurant in Tottenham aufgetan. In Bloomsbury gibt es das eine oder andere indische Lokal. Und am Sonntag hole ich nach, wovor ich letztes Jahr gescheut habe: Im Lord John Russell, einem Pub gleich ums Eck, werde ich diesmal den Sunday Roast-Klassiker bestellen – Lammbraten mit Minzsoße und Yorkshire Pudding.

Für Sonntagvormittag habe ich beim London Canal Museum eine Tour auf dem Regent’s Canal mit einem Narrowboat gebucht, einmal durch den Islington Tunnel und zurück, in die andere Richtung bis St. Pancras Lock und wieder zum Museum. Stramme Böen pfeifen durch die Straßen und ich denke: Segeln wäre bei diesem Wind keine gute Idee. Im Kanal erwarte ich keine Probleme, er ist durch die Bebauung bestens geschützt.

Aber auf dem Battlebridge Basin, wo sich das Museum befindet, steht der Wind voll drauf, begünstigt durch die niedrigen Gebäude im Süden (früher eine Marmeladenfabrik, heute luxuriöse Wohnungen). Hier ist es tatsächlich mächtig windig, und ich bin gespannt, wie sich so ein schmales, langes Boot mit wenig Tiefgang und steilem Aufbau manövrieren lässt. „Long Tom“ verspätet sich um eine Stunde – der Museumsdirektor ist genervt, wir Passagiere nutzen die Zeit für eine Runde durchs Museum. Früher war es ein Eislager: Vor der Erfindung des Kühlschranks wurde Gletschereis aus Norwegen importiert, auf dem Wasserweg angeliefert und von hier aus in der Stadt verteilt.

Die englischen Kanäle sind alt, stammen teilweise noch aus dem 18. Jahrhundert, also aus einer Zeit, bevor es die Dampfmaschine auf Gleise schaffte. Zu Beginn wurde ausschließlich mit Pferden getreidelt – und die alten Treidelpfade sind bis heute erhalten geblieben. In London bietet das Kanalnetz einen wunderbaren, sicheren Fahrradweg um die Innenstadt herum – und eine wunderbar ruhige Idylle in all dem lärmigen Chaos. Der Regent’s Canal ist eine recht späte Ergänzung aus der regency genannten Phase Anfang des 19. Jahrhunderts, als der spätere Henry IV. die Amtsgeschäfte seines psychisch kranken Vaters übernahm. Der Kanal beginnt am Limehouse Basin an der Themse, führt halbkreisförmig um die Innenstadt herum durch Angel, Islington und Camden, und trifft in Paddington den älteren Grand Junction Canal. Von hier könnte man nur auf historischen Kanälen nach Birmingham gelangen.

Die Kanäle sind schmal. Sie werden von langen, schmalen Booten befahren, den Narrowboats. Nach und nach erhielten sie Dampf- oder Dieselantriebe, wobei Schleppverbände üblich blieben. Parallel dazu machte zuerst die Eisenbahn, später der LKW, der Kanalschifffahrt Konkurrenz. Sie hielt sich aber hartnäckig als wichtiger Teil des Verkehrswesens. Pläne, Londons Kanäle zuzuschütten, um dort Bahnstrecken zu bauen, gab es hin und wieder – doch sie wurden verworfen. 1967 jedoch ließ ein besonders kalter Winter wochenlang die Kanäle vereisen – und nun sahen sich auch die letzten Kunden nach anderen Transportmöglichkeiten um. Die Kanäle verfielen, aber sie waren noch zu retten. Inzwischen werden sie als Teil des Kulturerbes gepflegt. Narrowboats sind für etliche Menschen ein Zuhause, was inzwischen auch geduldet und gefördert wird. Die alten Industrie- und Lagerhauskomplexe ringsherum erhalten nach und nach neue Funktionen in Kultur und Kommerz – das kann man bedauern, muss es aber nicht, denn oft wird zumindest die alte Bausubstanz erhalten und integriert.

Als das Boot eintrifft, bekomme ich gleich den Eindruck: Der Kapitän ist nicht allzu erfahren. „Long Tom“ vertreibt längsseits gegen ein anderes Narrowboat. Der Kapitän hält das Heck ab, der Museumsdirektor zerrt an der Vorleine. Ich kümmere mich darum, dass der Steven nicht am Beton kratzt. Mit vereinten Kräften kriegen wir das Boot längsseits an die Pier.


Die Tour ist gemütlich und hochinteressant, wenn man sich für die Geschichte London und des Verkehrswesens interessiert. Neben Anekdoten aus der Zeit, als auf dem Regent’s Canal noch Waren transportiert wurden, gibt es köstlichen Mince Pie und Früchtepunsch. Für mich ist es ein echtes Highlight, ich fühle mich zu Hause und in meinem Element. Nach einer guten Stunde legen wir wieder an. Der Skipper hat auf jeden Fall vom ersten Mal gelernt: Er fährt jetzt ganz nach Luv durch und dann langsam an die Pier. Im nächsten Moment sehe ich ihn allerdings mit der Mittelspring in der Hand an Land stehen. „Long Tom“ ist einen guten Meter von der Pier entfernt, und wir haben noch keine Leine nach Luv. Sofort schlüpfe ich meine vertraute Rolle.

Ich husche ins Cockpit, werfe dem Museumsdirektor eine Achterleine zu und binde das Boot fest. Die Frau, die die Tour kommentiert hat, bedankt sich sagt: „Das hast du offensichtlich nicht zum ersten Mal gemacht.“ Ich bestätige das lächelnd. Und denke darüber nach, ob ich über das Museum die Möglichkeit zu einer Narrowboat-Fahrstunde bekommen kann. Von außen lässt sich immer leicht über den Kapitän schimpfen, aber ich weiß ja gar nicht, wie sich das Boot verhält. Zum Beispiel wäre es mir am besten erschienen, vom Kanal aus gegen den Wind rückwärts in das Becken zu fahren – aber das setzt voraus, dass das Ding gut genug rückwärtsfährt. Das auszuprobieren, wäre tatsächlich eine neue Herausforderung.



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