Paulas Törnberichte nicolas thon: fotografie -schreiben - segeln
home fotos
texte
segeln über mich kontakt & impressum

zurück zur Übersicht

Im Sommer ist Nacktbaden verboten

Ich finde, man muss auch mal eine Insel komplett umrunden. Dieses Jahr ist das bisher zu kurz gekommen, es fehlten immer diverse Meilen, um den Kringel zu schließen. Jetzt, auf der zweiten Etappe Sommerreise, wollen wir es angehen: Die Insel nicht nur runden, sondern die herrlichen Kreidefelsen sowohl von See als auch beim Landgang genießen. Ob das klappt? Die Witterung bleibt unbeständig – Gehirnschmalz ist gefragt.

Juli 2024

Als grobe Richtung finde ich das Smålands Fahrwasser naheliegend. Zu Beginn werden wir mit kräftigem Westwind gut vorankommen, den Rückweg werden wir in kürzeren Schlägen gut schaffen – wenn nicht Starkwind und Westwind abwechseln, sondern wir auch mal eine andere Windrichtung bekommen. Hannes und Simone waren letztes Jahr mit Martha dabei, als wir es entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit gegen den Wind pünktlich von Simrishamn nach Svendborg schafften. Segeln muss ich ihnen nicht beibringen, aber eine Kreuz bei weniger als sechs Windstärken oder den Einsatz des Fockausbaumers bei mehr als einer würden sie bestimmt begrüßen. Sie kennen die Gegend, die ich ausgewählt habe, vom letzten Jahr. Aber da sind einige sehenswerte Orte aus Zeitgründen liegengeblieben, die wir gerne nachholen – ich möchte ja Stammgästen gerne immer wieder Neues bieten, um die Spannung hochzuhalten. Und wenn es klappt, ist Møns Klint nicht zu toppen.

Wolfgang und Anja sind für dies alles offen. Sie können als Folkeboot- und Ostsee-unerfahren gelten, waren letzten Herbst zum ersten Mal dabei, als wir von Svendborg an die Schlei zurückkehrten. Salty stellt sich gerne für ihre neuen Abenteuer zur Verfügung. Sandy und Dirk haben schon mehrfach gechartert. Die Belgier sind experimentierfreudig wie ich, kommen dabei auch mal fest, aber Oli hat sie fest in ihr Herz geschlossen. Sie sind zunächst nicht sicher, ob sie sich der Flottille anschließen oder ihr eigenes Ding machen. Sie wählen schließlich einen gelungenen Kompromiss: Als sich der Samstag als Anreise- und Einweisungstag erweist, segeln sie schonmal ein Stück voraus, um uns später wiederzutreffen. Wolfgang und Anja nutzen den mäßigen Wind zu einer Übungsrunde in der Lunkebugt. Hannes und Simone sitzen da noch im Flieger nach Kopenhagen und treffen erst abends ein. Das gibt mir und Frieda genug Zeit zu einer gründlichen Einweisung für Martin. Annette liegt infolge einer Infektion nach einem Behandlungsfehler noch im Krankenhaus und kommt Dienstag nach, bis dahin ist ihr Segelpartner einhand unterwegs. Hat er noch nie gemacht, aber er traut es sich zu – und ich merke gleich: Er kriegt das hin.

Ich finde, wir haben den Tag ausgezeichnet genutzt. Sonntag geht die Reise dann für alle richtig los. Und zwar bei Südwest 4 Böen 5-6 - kein Schönwettersegeln unter dem Cumulus-durchtränkten Himmel. Wir kreuzen aus dem Thurø Bund, sausen hoch am Wind in die Lunke Bugt und fallen ab. Vorm Wind geht es zum Smørstakke Løb vor Lohals und weiter zur Nordspitze Langelands, bevor wir uns dem nächsten Programmpunkt widmen: Weg T. Ein nordgehender Frachter ist schon durch, zwei südgehende beschäftigen uns. Hinter dem Heck des zweiten gehen wir durch. Wind und Seegang sind beträchtlich, und im Omø Sund müssen wir vorübergehend ordentlich Höhe laufen. Alle vier Boote sind dicht beieinander – toll! -und Oli meldet sich aus Sakskøbing. Auch toll.

Die Omø-Fähre kommt auf. Ich vermute, sie wird die Betonnung ausfahren, während wir die Abkürzung auf vier Metern Tiefe nehmen. Wir fallen ab und kreuzen rechtzeitig den Bug der Fähre. Hannes denkt das Gleiche und folgt uns – doch die Fähre hält beharrlich auf uns zu! Simone kommt es vor wie in einem Horrorfilm, in dem das gruselige Monster nicht lockerlässt, sondern dem panisch Flüchtenden auf den Fersen bleibt. Nachdem die Fähre überholt hat, wird ihre Anwesenheit zum Vorteil: Wir segeln ihr einfach hinterher in dem Wissen, dass es dort auch für uns tief genug ist. Beim Anlegen zeigt sich, dass sich schon wieder so ein benzinsparendes Szenario abzeichnet wie mit der letzten Gruppe: Aus unterschiedlichen Gründen kommen alle mehr oder weniger souverän segelnd an ihren Liegeplatz. Nach dem Aufklaren gehen wir Fisch essen im Restaurant.

Das Auslaufen am Montag – zwölf Uhr - ist bewusst getimt: Zu Beginn haben wir noch sechser Böen, im Laufe des Tages nimmt der Südwest kontinuierlich ab und dreht abends über Nord auf Ost. Unser Ziel ist Skåninge Bro an der Nordseite von Bogø. Ich war da selbst noch nie, und der Hafen ist dem NV-Verlag keine Erwähnung im Hafenhandbuch wert, aber es ist offensichtlich, dass wir da außen liegen werden und es nur bei ruhigem Wetter oder ablandiger Richtung kein Geschaukel gibt. Wir müssen also die Strecke schaffen, ohne zu früh – bei mordsmäßig auflandigem Wind – ans Ziel zu kommen, wollen aber nicht zu spät – nach Flaute und Kreuzen eintreffen. Deshalb nehmen wir die ruppingen Böen zu Beginn in Kauf.

Es ist ein bemerkenswerter Segeltag. Zunächst gibt es neben reichlich Speed und prächtiger Welle von der Seite jede Stunde eine Kardinaltonne zu sehen als Indiz, dass wir auf dem richtigen Kurs sind. An der Størstrøm Bro ist der Wind schon erheblich ruhiger. Westlich der bröckelnden alten Brücke ist eine neue im Bau als Teil der künftigen Fehmarnbelt-Querung. Man segelt nicht täglich durch eine Brückenbaustelle - es ist durchaus aufregend. Hinter der alten Brücke geht es über flaches Terrain zu einer weiteren Brücke, der zwischen Sjælland und Bogø – wir sind angekommen im Revier mit den vielen Brücken. Der Wind hält, Oli erwartet uns schon.

Ihre Schwestern folgen genau den Anweisungen aus dem Briefing: Hinter der Brücke sofort anluven auf Südkurs, Wassertiefe ignorieren, bis es wirklich tief wird (knapp zehn statt gut zwei Meter), dann der Rinne folgend abfallen und zum Hafen hinsegeln. Diese tiefe Rinne in flachem Wasser war früher durchgängig segelbar, aber dann wurde diese Brücke gebaut, und es ist im Grunde nur eine halbe Brücke: Bogø ist recht flach, auf Sjælland trifft die Brücke auf eine Steilküste. Der höchste Punkt der Brücke ist also nicht in der Mitte, sondern gleich am nördlichen Ufer – und dort befindet sich auch die betonnte Durchfahrt.

Vorläufig ist es noch recht schaukelig, doch abends beruhigt sich die Welle. Wir sind sozusagen an die Badestelle gesegelt und umgeben von plantschenden Kindern und schwimmenden älteren Damen. Die Gäste schließen sich da gerne an. Ansonsten befinden wir uns mitten im Grünen und haben alles, was wir brauchen: Kein Landstrom heute, kein Supermarkt und auch kein Restaurant, aber dafür Ruhe und Frieden. Hannes amüsiert sich über ein Hinweisschild: Nacktbaden ist im Sommer verboten! Das kann man unterschiedlich interpretieren: Im Winter wäre es erlaubt? Oder bezieht sich „Sommer“ vorwiegend auf die Ferienzeit, wenn viele Kinder anwesend sind, die sich in Anwesenheit fremder, nackter Erwachsener unwohl fühlen könnten? Zum Glück haben alle ihre Badesachen mitgebracht.

Dienstag müssenwir weiter. Nieselregen und ein schwacher Ostwind laden nicht zwingend dazu ein, nach Osten zu segeln. Doch mittags, nein, nachmittags, oder vielleicht auch erst abends, wird es gewittrig mit kräftigen Böen aus Südwest – dann wird es hier wieder schaukelig. Außerdem reist Annette heute an. Bogø ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln eher mühsam zu erreichen, und sie hat nun Bahn und Bus nach Stege gebucht, also sollen wir da auch hin. Zunächst hoffen wir auf einen zeitigen Winddreher vor den Gewittern, doch er verspätet und verschiebt sich, also laufen wir aus und kreuzen. Das ist nicht ganz trivial zwischen Bogø und Tærø, wo es nördlich und südlich der erstaunlich tiefen Rinne enorm flach wird. Viel kritischer scheint uns aber der anschließende Teil, der uns östlich von Tærø wieder zum Hauptfahrwasser bringen soll: Spärlich betonnt und kriminell flach. Selbst im Fahrwasser gibt es eine Stelle mit nur 1,90 m Tiefe. Und als wir dort eintreffen und auf einen Anlieger hoffen, hat der Wind gerade auf Nordost gedreht. Höchste Konzentration ist gefragt, ständiger Blick aufs Echolot und immer wieder in der Seekarte orientieren. Als wir die Tonnen erstmal im Blick haben und die beiden wichtigen roten gut anlegen können, stellt es sich als relativ einfach heraus.

Bis Kalvehave ist es eine Kreuz, die Koster Rende nach Stege können wir hingegen weitgehend anlegen, und dann sind wir da: Der Hafen ist nicht toll, der Ort eher nichtssagend, aber als abends das Wetter schlechter wird, sind wir zufrieden damit, an einem ruhigen Platz unter der Kuchenbude zu sitzen. Paula und ich waren hier schon vor fünfzehn Jahren nicht begeistert. Immerhin kann man einkaufen, essen gehen, duschen. Baden ginge auch. Die Alternativen? In Kalvehave ist der Hafen größer und voller und blöd, das Dorf auch nicht einladend. Auf Nyord befürchte ich bei Südwest unruhiges Liegen. Also alles richtig gemacht. Folkeboot Louise gesellt sich zu uns und findet auch noch einen schönen Platz – Susanne ist zum ersten Mal einhand unterwegs und auf dem Weg nach Kopenhagen. Letzte Woche noch zu Besuch bei uns in Thurø, segeln sie und Louise nun in Begleitung eines weiteren Folkebootes, einer Zufallsbekanntschaft aus Marstal mit dem gleichen Fernziel. Heute und morgen möchte sie aber stattdessen mit uns ein Abenteuer erleben.

Ein Abenteuer bekommt sie! Neben vielen anderen Kriterien ist Stege ein guter Ausgangspunkt für einen Schlag durch den flachen, mäandrierenden Bøge Strøm und weiter nach Præstø. Dort soll es sooo idyllisch und sehenswert sein. Bisher hat es nie geklappt, doch ich habe mir in den Kopf gesetzt, auf dieser Tour endlich dorthin zu kommen. Mittwoch ist der Tag, an dem es in den Törnplan passt. Vielleicht habe ich mich ein bisschen zu doll darauf versteift – der Wind pendelt zwischen West und Südwest, und das ist genau gegenan in einer Rinne von drei Seemeilen, die die Seekarte und das Hafenhandbuch als „sehr eng“ beschreiben. Was ich nicht finde, ist eine Solltiefe innerhalb des Fahrwassers. Die Betonnung scheint eher spärlich zu sein, häufig nur einseitig. Zweifellos ist es dort leichter, festzukommen als durchzukommen beim Kreuzen. Eigentlich müsste man hier, ähnlich wie nach Haderslev und Sakskøbing, mit achterlichem Wind rein- und am nächsten Tag nach dem Dreher auch mit achterlichem Wind wieder raussegeln – aber das können wir uns nicht aussuchen. Entweder heute oder nie, trotz gegenan. Alle sind guter Dinge, vor allem Susanne, die dort ihre Freundin Ute mit ihrem Spitzgatter zu treffen hofft.

Wir sind klar zum Auslaufen, als ein heftiger Schauer alles durchnässt, legen dann bei leichtem Regen ab. Allmählich klart es auf, und die weiteren Schauer suchen sich einen Weg um uns herum. Durch den Bøge Strøm und um diverse Untiefen herum zum Anfang der Rinne nach Præstø ist es nicht ganz anspruchslos mit reichlich Tonnensuchen, Halsen und Kursänderungen. Bei West 4-5 geht es jedenfalls gut voran. Dann beginnt der spannende Teil. Als Oli als Erste die Rinne erreicht, bin ich beruhigt: Sie fährt ihre Schläge zumindest mehrere Sekunden aus – ich hatte befürchtet, alle zwei Bootslängen wenden zu müssen. Wir überholen an der Ansteuerung schnell noch Salty und reihen uns hinter Frieda und Martha ein. Louise folgt in geringem Abstand. Schnell wird klar: Zumindest am Anfang ist es im Fahrwasser überraschend tief, um die acht Meter. Jenseits der Fünfmeterlinie muss man zügig wenden, wenn man es vor der Zweimeterlinie schaffen will – hier ist also eine steile Kante, die man auch am Wellenbild markant erkennt. Die Betonnung ist für uns nur schmückendes Beiwerk, wir segeln nach Echolot. Außer diesem braucht man vor allem hundertprozentige Konzentration über eine gute Stunde hinweg.

Wir hätten zur Not den Außenborder. Bei 2-3 Windstärken wäre es kein Problem, doch es brist auf mit sechser Böen. Ich lasse Paula so viel Höhe laufen, dass gelegentlich die Segel schlagen, damit wir nicht so schnell sind, ich mehr Reaktionszeit habe und wir ein paar Wenden weniger hinlegen müssen. Olis in der Wende schlagende Segel verscheuchen eine lustige Kuhherde, die neben einer Sandbank im Wasser steht.

Martha steht auf einmal hoch und trocken. Wir kreuzen vorbei – ich kann jetzt hier nicht ans Funkgerät, um Hannes und Simone Mut zuzusprechen oder schlaue Tipps zu geben. Das müssen sie selbst regeln, oder wir später vom Hafen aus. Hinter der Stelle mit der Kuhherde gibt es als Bonus zwei Inseln, die man auch nördlich passieren könnte durch zwei betonnte Rinnen mit 1,60 m Solltiefe, aber segelbaren Kursen. Der NV-Verlag empfiehlt sie nur Ortskundigen – drumherum liegen Steine. Es wäre eine echte Option, wir haben ja nur wenig Tiefgang – aber Oli kreuzt wacker und erfolgreich weiter, und Paula findet, wir machen das auch. Ein Schauer zieht dicht südlich vorbei, der Wind legt zu.

Dann sind wir nach siebzig Wenden auf drei Seemeilen im Hafen. Also Oli, Paula und Frieda sind da. Hut ab, Gratulation, das war eine echte Herausforderung. Saltys Crew versteht meine Beschreibung dessen, wie sie am besten hier unter Segeln anlegen, nicht richtig. Ich bin auch nicht ganz bei der Sache, sondern verhole Paula gerade zu einem freien Liegeplatz in Lee. Salty rauscht an, viel zu früh geht das Groß runter, sie droht an unsere unabgefenderte Seite zu treiben oder, schlimmer noch, mit gehörigem Speed in Paulas Heck. Ich brülle rum, mische mich ein, gebe Anweisungen, die Wolfgang kaum versteht und die ihn verunsichern. Am Ende wäre das Manöver wahrscheinlich besser gelungen, wenn ich meine Klappe gehalten hätte. So geht es ein wenig unsanft gegen die Pier, aber das ist auch alles, was es zu bemängeln gibt. Ich beschließe, möglichst vorher klarere Informationen zu geben, mich dann aber rauszuhalten – Anja und Wolfgang machen das schon, und blankliegenden Nerven in einem müden Kopf helfen Anweisungen vom Steg nie und nimmer. Ich sage nur, dass sie mit nur einer Achterleine anlegen sollen, damit Louise später noch zusätzlich in die breite Box kann.

Da schaltet sich jetzt auch noch eine Stimme vom Steg aus ein: Was denn mit der zweiten Achterleine sei? Bringt die doch mal aus und so - "ach, das schafft er wohl nicht". Ich behaupte ja, nervige Freizeitkapitäne sind durchweg deutsche Männer. Dies ist jetzt eine deutsche Frau, und auch sie darf gerne ihre Klappe halten. Als Salty wunderbar in ihrer Box liegt an Paulas Seite, und ich schlechte Laune habe, weil ich Wolfgang und Anja zu doll reingequatscht und sie verunsichert habe, anstatt ihnen durch Ruhe zu helfen, bespricht die Frau das Manöver mit ihrer Tochter: „Und er hätte doch…. Aber nein, der da hat gesagt…und falls da noch so ein Boot reinsoll oder so.“ Die beiden können sich meinetwegen ihr Maul zerreißen, wie sie wollen – aber in Hörweite, drei Meter neben uns? Ich sage ihnen, was ich davon halte. „Wir hatten selbst mal ein Folkeboot“, bekomme ich zur Antwort, „und wir wollten ja nur helfen.“ Eine Entschuldigung für schlechten Charakter ist das nicht. Aber ich kenne das schon: Deutsche Freizeitkapitäne sonnen sich ständig in ihrer unermüdlichen Hilfsbereitschaft, aber wenn diese Hilfe gar nicht nötig ist, sind sie beleidigt.

Martha meldet sich über Funk. Sie sind freigeschleppt worden, doch dann ging der Motor aus, und sie sind erneut festgekommen. Von Ute, Susannes Freundin mit dem Spitzgatter, neben dem wir liegen, erfahre ich: Louise musste einer rücksichtslosen, Schlenker fahrenden Motoryacht ausweichen und steckt auch fest, und zwar gründlich. Martha befreit sich diesmal aus eigener Kraft. Eine halbe Stunde später kommt sie angesegelt. Alles scheint gut, topp Aufschießer, doch dann geht das Großsegel nicht runter. Ich ahne es, obwohl es gar nicht möglich ist: Das Fall klemmt zwischen Holz und Fallscheibe. „Könnt ihr hierher längsseits kommen?“, flehe ich. Hannes verholt Martha zum Mastenkran. Simone ist fix und fertig und verlangt nach einem Hafentag. Sie ist mitreißend in ihrer Begeisterung, wenn es läuft – aber Pannen sind ihr zuwider. Schmollend sitzt sie auf der Backskiste. Egal, wir haben genug helfende Hände. Ich frage ein dänisches Ehepaar auf Dänisch erfolgreich nach einem Bootsmannsstuhl – ich vermute, sie können gut Deutsch, aber dieser sprachliche Weg ist sicher der bessere. Der Mastenkran kann auf eigene Gefahr selbständig benutzt werden. Hannes fährt mich hoch.

Als Erstes öffne ich den Schäkel, das Groß rasselt runter. Dann prokele ich mit einem großen Schraubenzieher das Fall frei. Es geht gut bis zu dem Punkt, wo ich tief zwischen Holz und Scheibe eindringen müsste. Hannes fährt mich wieder runter – ich brauche jetzt den kleinen Schlitzschraubenzieher. Es ist wirklich erstaunlich: Ein 8mm Fall passt dazwischen, obwohl da nur drei Millimeter Spiel sind, zu viel für das bisherige breite Werkzeug. Der Mastenkran hat genau die richtige Höhe, ich hänge an den letzten dreißig Zentimetern Kette. Und ich schaffe es: Das Fall läuft wieder, ich bringe den Schäkel zurück zum Boden.

Eigentlich wollte ich mir ja die wunderschöne Kleinstadt angucken. Die meisten Gebäude sind um 1840 entstanden. Damals war Præstø eine bedeutende Handelsstadt, reichlich alte Lagerhäuser sind erhalten. Man darf vermuten, dass mit der Dampfschifffahrt und dem größeren Tiefgang der Frachter schon zum Ende des 19. Jahrhunderts der Niedergang einsetzte, denn die Rinne war zu flach und ein Ausbaggern zu aufwändig. Spätestens der LKW machte den Ort als Umschlagplatz obsolet. Wir haben einigen Aufwand betrieben, um hier her zu gelangen – nun ist die alte Bausubstanz ganz hübsch und die touristische Erschließung gelungen, aber ein bisschen mehr davon hätte ich mir schön erhofft. Absolutes Highlight ist die Werft in einem alten Pakhus: Sie wird von einem Verein betrieben, der sich der Pflege alter Handwerkskunst verschrieben hat. Ein deutscher Tischler hat dort schon zwei regionaltypische Boote gebaut und hofft auf eine Festanstellung, denn die Gemeinde will das Projekt als Berufsfindungsmaßnahme für Arbeitslose fördern.

Was aber mit Marthas Großfall? Wenn es einmal aus der Scheibe hüpft, kann das auch mehrmals passieren, und nicht immer wird der Aufschießer mehr oder weniger direkt zum Mastenkran führen. Ich krame aus der Backskiste ein zehner Tau, bändsele es an und ziehe mit dem alten Fall das neue durch. Eigentlich ist es zu dick, es reibt gewaltig und erfordert erheblich mehr Kraftaufwand beim Setzen – keine Dauerlösung also. Aber bis Saisonende wird es so gehen, besser jedenfalls, als wenn ständig im Hinterkopf die Angst ist, Marthas Großfall könnte heute wieder festklemmen. Während ich die Kausch einspleiße, kommt ein Schlauchboot der dänischen Seenotrettung in den Hafen, gefolgt von Folkeboot Louise.

Sanne ist jetzt wieder happy. Sie hat ein Abenteuer erlebt. Diverse Motoryachten haben ihr Winken ignoriert oder sind einen extra Schlenker gefahren, um mehr Schwell zu erzeugen (ich kenne das von Motorbooten auch anders, nämlich rücksichtsvoll und hilfsbereit, aber wer weiß…). Die Retter kommen ganz aus Vordingborg, weil es bisher hier in der Nähe keine Station gibt – eineinhalb Stunden mit dreißig Knoten. Sie haben Louise freigeschleppt, dann ist einer übergestiegen. Er habe mal auf einem Folkeboot segeln gelernt und würde so gerne Ruder gehen, sagt er - die Jungs haben erkannt, wie fix und fertig die Einhandseglerin nach diesem Erlebnis war. Nun drehen es in Richtung bewältigtes Abenteuer, schöne Begegnung, wertvolle Erfahrung – und gehen in Ruhe essen, bevor sie zurück zur Basis rasen.

Jetzt müssen wir nur noch Simone zurück in die Spur bringen. Ich kann ihre Stimmung gut verstehen, mir ist es nämlich auch lieber, wenn es störungsfrei läuft. Immerhin, sie sind im Hafen, das Segel ist unten, das Fall ist erneuert, damit das Problem nicht erneut auftritt. Das Versagen des Motors lag daran, dass Hannes die Belüftungsschraube am Tank nicht aufgemacht hat. Das erste Festkommen war zweifellos ein Navigationsfehler. Man könnte sich auch fragen, ob es wirklich eine clevere Idee war, die Gäste eine so enge Rinne aufzukreuzen zu lassen. Doch hier geht es nicht darum, wer welchen Fehler gemacht hat oder wessen Idee das Ganze war, sondern: Der Wohlfühlfaktor ist im Keller.

Ich treffe Hannes und Simone beim Klogebäude. Simone berichtet, dass Hannes nach der zweiten Grundberührung nackt ins Wasser gestiegen ist und Martha freigeschoben hat – und danach, es war ja zwischen all den Wenden kaum Zeit, sich abzutrocknen und anzuziehen - nackt weitergesegelt ist! Ich kann da eine Geschichte zu beitragen – ich bin nach einem ähnlichen Missgeschick nackt vor den Villen im Svendborgsund vorbeigesegelt. Dann sage ich: „Man gut, das ist nicht vor Bogø passiert – dort ist Nacktbaden im Sommer verboten!“ Schallendes Gelächter, Simone ist wieder klar und geht mit Hannes ins Restaurant. Vorher machen wir schnell noch das Briefing für den Donnerstag.

Ablegen unter Segeln ist bei West 5-6 auch wieder nicht ganz trivial. Die Rinne ist mir bei diversen Halsen und brachialem Speed auch vorm Wind nicht geheuer – gestern war jedenfalls eindeutig, wo das tiefe Wasser ist, nämlich dass man wenden muss, wenn es flacher wird. Jetzt bleiben wir bei Rauschefahrt theoretisch im Fahrwasser, aber die Tiefe variiert erheblich. Als wir den Kram endlich hinter uns haben, lässt die Böigkeit nach, und wir segeln ausgebaumt nach Møns Klint. Die Klippen sind auch unter bedecktem Himmel schön anzusehen, kommen aber nicht perfekt zur Geltung. Der Wind dreht vorübergehend auf Südsüdwest, wir beginnen zu kreuzen. Mit drei bis vier Windstärken gegen eine von fünf Windstärken aufgetürmte Welle ist das kein Spaß, und als die Brise zurück auf West dreht, stampfen wir bei den Holeschlägen genau gegen die See.

Gleichwohl erreichen wir gegen siebzehn Uhr Klintholm, erstaunlich gut gelaunt. Martha als Erste, Simone fragt gleich den Hafenmeister nach Liegeplätzen. Der schlägt verzweifelt die Hände überm Kopf zusammen, als er hört, dass wir um diese Zeit an einem Donnerstag mit so vielen Booten hier eintreffen. Er findet aber Plätze. Paula treibt an ihren, der deutsche Nachbar bietet Hilfe an, ich sei ja ganz allein. „Nein nein“, sage ich, „ich bin mit Paula.“

„Wer ist denn Paula?“ Ich klopfe an mein Boot und lege an. „Folkeboot Paula?“, fragt er, „hast du das Buch geschrieben? Bist du Nicolas?“ Es stellt sich heraus, dass er gerade mit einem Freund telefoniert, der momentan mit seinem Folkeboot in Norwegen unterwegs ist und sofort diese Assoziation bereithält. Ich kenne flüchtig dessen Sohn, und er hat scheinbar ein untrügliches Gedächtnis für Boote, ihre Eigner, Voreigner und Schwiegereltern. Der Nachbar selbst hat das Buch auch gelesen. Weil er seit Tagen auf seinem Boot hockt und bisher vergeblich auf ein Ersatzteil für den defekten Diesel wartet, lädt er mich zum Rotwein ein. Wir unterhalten uns prima, es wird mächtig spät.

Wir sind bisher stramm durchgesegelt bei reichlich Wind und teilweise anspruchsvoller Navigation – eine Pause wird uns guttun. Es wäre sowieso zu wenig Wind, um irgendwo anzukommen. Wir sind – nicht ganz zufällig, ich wollte es so haben – in Klintholm, wo es im Juli einen Fahrradverleih und einen Bus gibt, um zu Dänemarks spektakulärster Landschaftsformation zu gelangen: Møns Klint! Und nach all dem trüben Wetter der letzten Tage ist heute kein Wölkchen am Himmel – die kräftigen Farben des Buchenwaldes und des grünen und blauen Wassers im Kontrast zu dem Weiß der Kreide werden prächtig zur Geltung kommen. Es ist der perfekte Hafentag!

Das Problem ist nur: Ich verschlafe den Bus. Hannes, Simone, Wolfgang und Anja ist neun Uhr fünfunddreißig auch zu früh, sie leihen sich Fahrräder. Auf diese gute Idee komme ich gar nicht, sondern gehe die sechseinhalb Kilometer zu Fuß. Es ist ein schöner Weg, aber bei Knallsonne recht anstrengend. Beim Geocenter angekommen, brauche ich erstmal eine Cola. Aber das ist kein Problem, Kiosk und Café sind geöffnet und haben Hochbetrieb. Ich war vor vierzehn Jahren schon mal hier, allerdings im Mai. Da hatte ich ein Klapprad dabei, und ich war beinahe der einzige Besucher. Letztes Jahr auf dem Weg nach Karlskrona waren wir auch in Klintholm, und zwar im Juni: Vorsaison, kein Bus, keine Fahrräder. Ein Teil der Gruppe ging hin und zurück zu Fuß zu den Klippen. Mir war das zu anstrengend.

Jetzt bin ich froh über die Hauptsaison: Die vielen Touristen bringen Leben in die Idylle, doch gleichzeitig verteilen sie sich so weit, dass man einander nicht auf die Nerven geht. An einem Tag wie diesem hat hier jeder gute Laune. Und so bedeutet es pure Euphorie, im Buchenwald auf den Kreidefelsen zu stehen und von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt zu schlendern, wo man über 100 Meter tief auf den Strand blicken kann. Davor ankern diverse Boote, unten sieht es nach einem großen Happening aus. Auch ich steige die Treppe hinab und sehe mir das aus der Nähe an.

Die Kreide wie auch die Flintzwischenlagen sind vor bummelig 100 Millionen Jahren von Mikroorganismen gebildet worden. An den ehemals horizontalen Zwischenlagen sieht man gut, wie das Ganze unter Druck geriet, verformt und gefaltet wurde. Die Eiszeiten haben die Kreide freigelegt, hier wie auch gegenüber auf Rügen. Was ich nicht weiß, ist, ob der Grund der Kadettrende dazwischen auch aus Kreide besteht, oder ob irgendein Gletscher sie dort komplett abgetragen hat. Die Geschiebe der letzten Eiszeit haben zum Beispiel in Ostholstein neben einem abwechslungsreichen, hügeligen Relief für wertvolle, kalkhaltige Böden gesorgt, die im feuchten Klima erst allmählich versauern – Kalk ist wasserlöslich und wird ausgewachsen. Und dieser Kalk könnte von hier stammen. Auf Møn zeugt die Vegetation von ausgezeichneten Böden: Die Buche ist ein anspruchsvoller Baum und gedeiht prächtig. Auch Orchideen wachsen hier, Botaniker und Liebhaber kämen auf ihren Genuss. Westlich der Klippen gedeiht bestes Getreide, die Ernte hat gerade begonnen. Ander als Kalkgestein ist Kreide weich, beinahe plastisch formbar und für Wurzeln durchdringbar mit gutem Wasserhaushalt – also ist das hier keine karge, trockene Karstlandschaft wie in den Dolomiten, die ich mir beinahe so vorstelle, als hätten dort nur die Orchideen eine Chance.

Inzwischen nagt das Meer an dem Kreideabbruch – im Vergleich mit vor vierzehn Jahren hat sich ihr Manches verändert. Gerade die Sturmflut letzten Oktober hat für einigen Wirbel gesorgt: Eine der Treppen wurde zerstört und bisher nicht repariert, die unteren fünf Meter fehlen. Auch ein ganzer Hang ist abgerutscht, komplett mit den Bäumen, die jetzt tot aus dem seichten Wasser ragen. Den Strand habe ich deutlich breiter in Erinnerung, an einer Stelle muss man barfuß waten. Das kann darauf hindeuten, dass in der Sturmflut Einiges weggespült wurde, mehr als was von oben her aufgefüllt wurde. Vielleicht haben wir aber auch einen sehr hohen Wasserstand – der starke Westwind der letzten Zeit ist vorbei, sondern bei einem leichten Ostwind schwappt das Ostseewasser aus dem Baltikum zurück in diese Gegend.

Der Bus fährt bald ab, und ich muss noch die Treppe erklimmen – es wird Zeit für den Rückweg. Neben Kreidekrümeln und Flinten liegt auch reichlich Kalksteingeröll herum. Hier müsste man Versteinerungen finden, denke ich, aber ich bin ganz sicher keiner, der Stunden damit verbringt, jeden Stein umzudrehen auf der Suche nach einem besonderen Fund. Gleichwohl gucke ich zu Boden – und hebe etwas auf, das mir ins Auge sticht. Gleich danach treffe ich Wolfgang, der mein Steinchen begutachtet und ein Seepferdchen erkennt. „Da hast du aber Glück gehabt“, sagt er. Kurz vor Ende der Treppe fragt eine Frau zuerst auf Schwedisch, dann, als ich zögere, auf Englisch, ob es da unten schön sei. Keuchend, japsend, völlig außer Atem flehe ich sie geradezu an, runterzusteigen und sich das anzusehen – denn dies ist ein Aufwand, für den man reich belohnt wird.

Gemeinsam mit Olieses und Friedas Crews steige ich in den Bus. Es ist grandios, wie sich das riesige Fahrzeug über die schmale Schotterpiste zum Hafen quält. Dort stolpern wir neugierig in den kleinen street food market. Dirk, Sandy und ich sind uns einig: Wir wollten nur mal gucken, haben genug Proviant an Bord, aber jetzt können wir nicht widerstehen. Zwischen Burgern und Fish’n’Chips fällt unsere Wahl auf jamaikanisches Curry. Empfehlenswert trifft es nicht ganz – es ist köstlich! Fernab des Segelns unterhalten wir uns über die Klimaveränderung und gelungene oder gescheiterte Entwicklungshilfeprojekte. Auch der Hafen hat jetzt, anders als meinen bisherigen Besuchen in Mai und Juni oder im Juli bei schlechtem Wetter, ein angenehmes Sommer-Ferien-Urlaubsambiente. Die Ferienapartements um das Becken mit unseren Liegeplätzen fügen sich harmonisch ein und schirmen uns ab von jeglichem Trubel. Die Livemusik im Café ist zwar erst Samstag, aber wir finden uns trotzdem dort ein auf ein Gläschen Rouge. Besonders mag ich die Playlist: Musiik aus den Sechzigern und Siebzigern, Beatles, Abba, Eric Clapton – kein abgenundelter Kram, sondern ausgewählte Stücke, die ich mir gerne mal wieder anhöre. Fazit: Während man viele Häfen in der Hauptsaison tunlichst meiden sollte, gerät Klintholm dann in Topform!

Wir gehen dann aber mal wieder segeln. Nicht allzu weit, denn Samstag schwächelt der Ostwind weiterhin. Es macht aber Spaß, nach den elf Meilen offenen Wassers in die Enge des Bøge Strøm einzubiegen. Den Zielhafen haben wir beim Briefing gemeinsam diskutiert: Zur Wahl standen Harbølle auf Møn, Bogø (diesmal Südseite) und Gåbense am Südende der Størstrøm Bro. Nicht: Stubbekøbing – auf die langweiligste aller langweiligen Provinzstädte habe ich keine Lust. Harbølle ist miniminiwinzig, potenziell hübsch, doch wir erreichen es erwartungsgemäß schon um vierzehn Uhr und wollen das unbeschwerte Schönwettersegeln gerne fortsetzen. Gåbense wiederum wäre eine Spur zu weit. Also Bogø: Eine historische Fähre verkehrt nach Stubbekøbing, überwiegend für die Touristen. Im Hafen gibt es eine Pizzeria. Der Koch flaniert gerade über den Steg, als wir anlegen – Simone reserviert gleich einen Tisch. Ansonsten hat Bogø noch eine Windmühle von 1852 zu bieten, deren Holzteile gerade komplett restauriert wurden. Im Sommer kann man sie täglich besichtigen, allerdings zu Zeiten, zu denen wir gewöhnlich auf dem Wasser sind. Vor allem bei dem schönen Ostsüdost 3-4 am Sonntag.

Das Ablegen verläuft nur teilweise zu meiner Zufriedenheit. Der Wind weht vierkant aus der Box. Während das Boot abklappt, muss man hier erstmal die volle Länge der Großschot fieren und die Fock dichtnehmen – das hat etwas mit dem Segeldruckpunkt, der Gierachse/dem Lateraldruckpunkt und der daraus resultierenden Luvgierigkeit zu tun. Martha segelt gegen einen Pfahl, weil Simone die Großschot zu früh holt. Martha liegt aber auch am weitesten außen und hat nach dem Abfallen nur wenige Meter und Sekunden, bevor wir um den Stegkopf kreuzen müssen, beide Schoten also dicht sein sollten. Dirk holt Olieses Heck mit einer Achterspring an die Pfähle, so dass das Boot parallel zum Steg liegt. Das funktioniert, ist aber unnötig umständlich. Wolfgang weise ich dreimal darauf hin, „richtig Lose auf die Großschot“ zu geben, sehe aber später ein, dass das nicht spezifisch genug formuliert ist: Ich meine ja die volle Länge, also sollte ich das auch sagen. Auch Salty luvt an und segeln gegen einen Pfahl. Paulas und meins ist souverän, Friedas kriege ich nicht mehr mit, scheint aber gut geklappt zu haben.

Das Segeln ist toll: Raumschots bei mäßigem Wind und mitlaufender Strömung sind wir in Grønsund und Stør Strøm schnell unterwegs. An der Ansteuerungstonne der Brückendurchfahrt schließt sich der Bogen, den wir um Møn gesegelt sind – endlich mal wieder eine Insel komplett gerundet! Ich beschließe, zum nächsten Briefing ein Papiermodell eines Bootes mitzubringen, es an der Gierachse auf einen Bleistift aufzuspießen und ein kleines Referat über Luvgierigkeit und Drehmomente zu halten. Femø, eben noch kaum auszumachen, bekommt klare Konturen, die Untiefentonnen fliegen vorbei, planmäßig um fünfzehn Uhr und gerade rechtzeitig vor der nahenden Fähre sind wir alle im Hafen.

Trotzdem wundere ich mich: Wenn man unter Segeln anlegt, muss man unter Segeln anlegen. Und für den Fall, dass man nicht unter Segeln anlegt, gibt es einen Außenborder. Auf einen Hafen zuzukreuzen, um den herum gerade der meiste Wind des Tages weht mit 5 Böen 6, und gegen den Wind einen Liegeplatz zu suchen, kann doch wohl nur heißen, im Hafen weiterzukreuzen und möglichst weit in Luv einen Pfahl anzusteuern. Ohne Antrieb durch den Hafen zu treiben und dabei zu glauben, gegen den Wind ankommen zu können, ist keine gute Idee. Martha birgt die Segel an der Fährbox und treibt ab, Hannes startet den Motor. Oli birgt die Segel an der Fährbox, legt provisorisch an der Zwischenmole an und segelt mit der Fock weiter. Frieda birgt die Segel noch vor der Fährbox. Martin wriggt und wriggt, aber Frieda vertreibt. Sie vertreibt komplett nach Lee, findet dort ein freies Plätzchen, während Paula neben Martha ganz in Luv anlegt. Hinter uns segelt auch Salty einen souveränen Aufschießer.

Als Martin und Annette zum Anlegebier erscheinen, bezeichne ich sie als die Vertriebenen. So richtig nach Witzen ist ihnen nicht zumute – sie haben auf ihrem Weg vor Topp und Takel das Schlauchboot einer luxuriösen Motoryacht irgendwie berührt, und der dänische Eigner erweckt einen unsympathischen Eindruck und möchte am liebsten sofort die Versicherungsunterlagen sehen. Egal wie superreich oder unsympathisch, hat er ja aber doch einen Anspruch darauf, dass sein Schlauchboot heil bleibt – nur ist es gar nicht doll beschädigt, ein neuer Kratzer neben vielen alten, das ist wirklich Kleinkram. Ich setze mich gleich mal die Schadensmeldung, überlasse das Einholen der nötigen Informationen aber den Gästen, die es vermasselt haben.

Ich dachte, wir hätten das beim Briefing ausreichend besprochen – aber ich merke jetzt, dass ich da auch ein bisschen laut gedacht habe, als es um den perfekten Liegeplatz ging, anstatt klare Anweisungen zu geben. Ich habe nämlich darüber spekuliert, ob das nordwestliche Becken nicht das beste sei, um später bei Südenwind wieder auszulaufen. Ist es nicht, das lässt sich im Nachhinein sagen, und vor allem war es beim Einlaufen weitgehend voll und im südöstlichen Becken noch genug Platz für uns alle – das kann ich natürlich nicht briefen, sondern man muss es vor Ort erkennen. Bei den Gästen ist aber angekommen, dass sie von der Fährbox aus nach Lee vertreiben können zu unseren Liegeplätzen. 

Briefen sollte ich tunlichst, dass der beste Weg erstmal ganz nach Luv führt und wir von dort sondieren, wo wir liegen können. Nachdem bisher alles motorlos gut geklappt hat, täuschen wir uns vielleicht alle in den Fähigkeiten der Gäste – sie sind nicht so souverän, wie sie selbst und ich es gerne hätten. Kann nicht überraschen – wie sollten sie das Boot so gut kennen wie ich? Wir sind ja wieder in Femø – wo wir vor vier Wochen aus gegebenem Anlass den Nachmittag mit Übungsmanövern unter Segeln verbracht haben. Heute machen wir das nicht, sondern die Gäste gehen baden und ich widme mich der Schadensmeldung und dem Bootsmodell. Danach ist regnerisches Gepuste aus Nordwest, also machen wir Hafentag. Unser neuer Freund mit der Motoryacht und dem verkratzten Schlauchboot läuft im morgendlichen Regen aus, ohne seine Personalien zu hinterlassen. Annette hat ihm eine schöne Flasche Wein besorgt, mit dieser Beute ist er offenbar zufrieden.

Auf Femø bin ich zum fünften Mal, und ich bin meistens im Hafen geblieben. Einmal habe ich es zur nahegelegenen Kirche geschafft. Die Insel ist sehr populär. Als der Regen aufhört, schnappe ich mir ein Fahrrad und radele einmal ringsum. Es geht auf und ab, gegen den Wind ist es anstrengend, insgesamt auch eine recht weite Tour – und außer dem alteingesessenen Kro finde ich beim besten Willen nichts Reizvolles. Am interessantesten finde ich noch, dass sich im verregneten Frühjahr in jeder kleinen Senke des lehmigen Bodens das Wasser sammelte und nicht ablief, so dass die Saat nicht aufging – jetzt finden sich zwischen reifem Roggen grüne, gräserne, krautige Inseln. Vielleicht kommen wir hier eher nicht wieder hin.

Beim Briefing führe ich mein Bootsmodell vor und verkünde ohne allzu schmückende Worte unser nächstes Ziel. Es ist einer der schönsten Häfen und Orte überhaupt: Bisserup. Nicht nur hat man hier eine außergewöhnliche Idylle direkt am Liegeplatz. Es gibt Restaurants, Strand, einen 800 Meter entfernten Brugsen und kostenlose Fahrräder – und den tollsten, hilfsbereitesten, sympathischsten Hafenmeister, den ich kenne. Er hilft beim Anlegen, gibt Tipps zur Strömung, weist bei Bedarf Liegeplätze zu, rollt auch mal dreißig Meter Kabel aus, damit wir alle Landstrom haben. Und er redet kein dummes Zeug, sondern gibt wichtige Informationen. Natürlich ist er zurecht stolz darauf, dass der schöne Hafen so gut ausgestattet ist – und Gastlieger dürfen das alles unbefangen nutzen.

In den letzten beiden Jahren sind wir jeweils zweimal hier gewesen. Es war immer bei Ostwind. Das ist wichtig, denn es ist kein einfacher Hafen: Bisserup liegt an der schmalen Einfahrt in einen flachen Bodden, wo im Gezeitenrhythmus reichlich Wasser ein- oder ausströmt. Die Strömung ist bisweilen kriminell, und das völlig unabhängig vom Wind. Leider gibt es keinen Tidenkalender, man merkt erst in der engen Baggerrinne, wie er gerade läuft. Der Hafen ist eher winzig. Davor ist die Zweimeterlinie gut mit Bojen markiert, und es gibt viel mehr Platz, als das Hafenhandbuch vermuten lässt. Aber üppig ist das nicht, und dann gurgelt da ja auch die Strömung. Bei Ostwind kann man einen Aufschießer in die Abdeckung fahren, darf aber nicht erst in der Einfahrt die Schot öffnen, sondern muss bis dahin schon ordentlich Fahrt abbauen. Bei starkem Westwind dürften hier gar nicht hin. Ich will den Gästen aber diesen wundervollen Ort nicht vorenthalten, und wir haben ja Südwind. Wie viel Wind und welche Strömungsrichtung, sind entscheidende Informationen für die Wahl der Beseglung, mit der wir da reinfahren.

Quer durchs Smålands Fahrwasser geht es erstmal prima voran. Mir gefällt die Bewölkung überhaupt nicht, aber da sind zumindest keine Blitze und kein Donner. Kurz vor der Fischzucht südlich der Ansteuerungstonne erwischt uns der erste Schauer: Große Regentropfen prallen in die sanfte Dünung, wie immer erinnert mich das an ein Gemälde Caspar David Friedrichs, aber ich möchte es nicht fotografieren, um nicht die gute Kamera zu ruinieren. Der Wind schläft fast ein und dreht auf West. Als der Schauer durch ist, geht es bis zur Ansteuerungtonne (einem großen, rotweißen Ball, auf dem heute eine Möwe Ausschau hält) wieder passabel voran. Frieda ist vor uns da und segelt rein, birgt auf halber Strecke das Groß, der nächste Schauer zieht über uns.

Paula liegt bei. Ich möchte wissen, was hinter dem Schauer passiert. Innerhalb so einer Schauerwolke steigt in der Regel die Luft rapide auf. Damit kein Vakuum entsteht, saugt sie allseitig Luft an, so dass in Überlagerung mit dem Gradientwind an einer Seite Flaute entsteht, gegenüber aber eine ruppige Bö. Bei West 4, hab ich ja schon geschrieben, möchte ich da am liebsten gar nicht reinfahren, schon gar nicht mit gesetztem Groß. Als der Schauer durch ist, haben wir schlicht und einfach fast gar keinen Wind mehr. Frieda gibt aber durch, dass die Strömung mitläuft – wir treiben mit schlaffem Vollzeug rein. An der Sandbank kommt ein bisschen Südostwind. Perfekt! Ich berge die Fock und freue mich auf einen schönen Aufschießer im Hafen. Wir dürfen uns nur nicht zu weit von der Einfahrt entfernen, dort muss ich dann beherzt Ruder legen.

Auf Kanal 72, unserem Stand-by-Kanal, unterhalten sich zwei Holländer. Es ist laut und übersteuert, nervt total. Ich hopse unter Deck und schalte das Funkgerät aus. Als ich damit fertig bin, sind wir dreißig Meter von der Mole entfernt, null Wind, die Strömung treibt uns zügig am Hafen vorbei. Mit hängenden Schultern starte ich den Außenborder. Hannes beobachtet den Fehler, vermeidet ihn und greift zum Stechpaddel – Martha schafft es ohne Motor an die Pier.

Atemlose Gäste staunen, wo sie hier gelandet sind. Aber es kommt noch viel besser: Der Hafenmeister bekommt mit, dass wir Fisch essen möchten. Das Restaurant hat nur am Wochenende geöffnet, also ruft er den Fischer an, der auf ökologische Weise die Zuchtbecken betreibt: Er ist zu Hause, und er hat frische Meerforellen. Die Gäste radeln los und besorgen neben vier riesigen Fischen alles, was man zu einem perfekten Grillfest braucht. Sie bringen auch eine Tüte Brennnesseln mit und den heißen Tipp, sie statt Alufolie auf den Rost zu legen. Also die Brennneseln. Nicht die Plastiktüte. Nach dem letzten Schauer kommt die Sonne raus, es ist angenehm warm, und es entfaltet sich ein wundervoller Abend. Mit Brot, Kartoffeln, Reis, Kräuterbutter und verschiedenen Salaten haben wir ein Beilagensortiment, wie man es in keinem Restaurant bestellen könnte. Martin und Anja haben bei laufender Stoppuhr die Forellen auf den Punkt gewendet und gegart. Wolfgang hat sie professionell filetiert. Köstlich wäre das falsche Wort, nur kenne ich nicht die Steigerung davon.

Als die meisten schon schlafen, plaudern Annette und ich über unsere Lieblingsstädte: London vs. San Francisco. Mittwoch haben wir ein trockenes Zeitfenster mit Nordwest um die vier Beaufort mit Böen fünf zunehmend sechs. „Zur Wahl stehen Omø und Agersø“, sage ich beim Briefing, „Agersø hat den Nachteil, dass wir da schon waren, und den Vorteil, dass wir da zum Anlegen schön in die Abdeckung segeln“. Der Hafen von Omø ist auf der Nordseite, dort steht die volle Dröhnung drauf. Das letzte Stück kreuzen müssen wir in beiden Fällen. Die Wahl fällt leicht: Ein zweites Mal zum schönen Agersø finden alle gut.

Dazu müssen wir aber erstmal aus dem Hafen, und das ist auf den ersten Blick schwierig mit Strömung und Wind und Friedas defektem Außenborder – ich habe sein gestriges Ausgehen nicht ernst genommen, stelle aber morgens fest, dass er scheinbar zu wenig Luft bekommt. Martin und Annette kommen erfahrungsgemäß gut ohne ihn klar, also verschieben wir den Außenbordertausch auf später auf Agersø, sondern legen jetzt erstmal ab. Es wird ein All-Hands-Manöver: Salty hat es relativ fluffig, wir drehen sie so, dass sie aus dem Hafen motoren kann, um draußen die Fock zu setzen und raumschots mit der Strömung in tiefes Wasser zu segeln. Leider vergisst Wolfgang meinen Hinweis zur Strömung, an der Ausfahrt wird es ziemlich knapp – man darf nicht langsam durch die Mitte fahren, sondern muss sich mit beherztem Speed in Luv halten.

Auf Frieda steige ich auf und verhangele sie entlang von Pfählen, Festmachen, Heckkörben und aufgeholten Außenbordern komplett durch den Hafen zur Ausfahrt – das wäre Martin und Annette, die sowas noch nie gesehen oder gemacht haben, vom Steg aus kaum vermittelbar gewesen. Sie setzen die Segel, als ich abgestiegen bin. Frieda segelt ganz simpel los. Martha und Paula verholen wir im Päckchen an diese Stelle, müssen sie dabei an einer langen Leine erst noch drehen. Skizzen würden helfen, diese Manöver im Detail zu verstehen, doch vielleicht muss das gar nicht sein. Die Botschaft lautet: Wenn es eng und knifflig und dazu pustig und strömig ist, geht es von Hand von Pfahl zu Pfahl oder mit klug ausgebrachten Leinen langsam, Schritt für Schritt, kontrolliert und sicher.

Der Segeltag leidet ein bisschen unter der zu hohen alten Welle in Relation zum Wind, den Winddrehern immer dann, wenn Paula sie auf der Kreuz nicht braucht, sowie der kräftigen Strömung im Agersø Sund, doch die Wolken verziehen sich, und es sind bescheidene zwölf Meilen. Viereinhalb Stunden sind keine Rekordzeit, doch ein Hoppeltag gehört auch mal dazu. Beim Einlaufen bekomme ich aber kurzzeitig richtig schlechte Laune.

Oli ist schon da. Dirk und Sandy kannten Bisserup schon, scheuten vor dem heutigen Wind und sind gleich von Femø nach Agersø gesegelt (haben also den phantastischen Grillabend verpasst, dafür aber einen schönen Hafentag auf der Insel verbracht). Martha läuft souverän mit dem Groß ein. Paula überholt auf den letzten Meter Salty, auf der sich Wolfgang und Anja für Motoren entschieden haben. Frieda ist deutlich vor Paula am Hafen. Das Groß wird geborgen. Verstehe ich nicht: Die haben keinen Motor, und beim Briefing glaube ich deutlich gemacht zu haben, dass man nicht mit der Fock in den Hafen kommt, sondern ordentlich Schwung aufnehmen muss – oder in der Einfahrt zwei Wenden fahren. Vielleicht gibt es ein Problem, über das wir jetzt per Funk kommunizieren könnten, aber da kommt nichts. Oder sie wollen Paula vorlassen, denn Frieda segelt hin und her, auf und ab, hühnert herum – und als Paula eintrifft und ich mich aufs nicht ganz triviale Reinsegeln vorbereite, segelt sie mit der Fock auf die Einfahrt zu, verhungert erwartungsgemäß im Wind und legt am Molenkopf an.

Jetzt segelt Paula hin und her, auf und ab, und wir möchten, dass Frieda endlich aus der verdammten Einfahrt gezogen wird, damit wir dort wieder genug Platz haben. Eine gefühlte Ewigkeit später sind die Fender ausgebracht, und Frieda wird an einen Liegeplatz an der Innenseite der Außenmole gezogen. Paula flutscht rein. „Hallo“, ruft der Hafenmeister mit dem Daumen nach oben, „da lang sind vier Plätze für dich." Wir haben hier schon Stammplätze an der Kranpier vorm Fischrestaurant.

Salty kommt angetuckert. Inzwischen geht das an Bord ruhig und, wenn nicht souverän, dann zumindest wohlkalkuliert zu. Ich habe aber noch einen Spezialauftrag: Ich steige auf, wie fahren wieder zurück zum Vorhafen. „Wir wollen euch schleppen“, rufe ich Martin zu. Der ist ein bisschen erstaunt: Frieda könne dort doch liegenbleiben – aber ich möchte die Außenborder tauschen, Paulas heilen mit Friedas kaputtem, und ich habe wenig Lust, die jeweils durch den kompletten Hafen zu tragen.

Meine Laune bessert sich im Laufe der Aktion: So sehr ich es hasse, geradeaus zu motoren, so sehr liebe ich knifflige, anspruchsvolle Manöver wie dieses. Ich halte es auch für wichtig, in der Übung zu bleiben, denn das hier lernt man in keiner Segelschule, sondern niemand im Hafen könnte es besser als ich – so muss es bleiben. Erstmal bringe ich Salty bei ordentlich Wind und einer merklichen Strömung ganz langsam an Friedas Seite. Dann ziehen wir das Päckchen ein paar Meter zurück, bevor ich es von der Mole wegbringe und zurück in unser schmales Hafenbecken. Zuletzt gehen wir an den Liegeplätzen an die Pfähle. Nun ist es ein All-Hands-Manöver, weil in Luv noch eine teure, unbemannte Motoryacht liegt und die vier Folkeboote sich drei Boxen teilen müssen – eine kleine Puzzelecke.

Es kann jetzt wie auf einer großen Yacht nur einen Kapitän geben, und der bin dann wohl ich. Ich bin aber gewohnt, spontan zu entscheiden und keine Kommandos zu geben – jetzt muss ich jede, von der ich etwas will, mit Namen ansprechen, damit es kein Durcheinander gibt. Schritt für Schritt – alle spielen wunderbar ihre Rolle – kriegen wir zuerst Frieda an die Seite der Motoryacht und dann Salty zwischen Frieda und Martha. Jetzt noch Aufklaren, Außenborder tauschen, Benzinvorrat auffüllen, einkaufen – und dann: Endlich Feierabend. Die Sonne scheint, alle steigen auf die Fahrräder, um nach der Langeweile Femøs wieder eine richtig rundum schöne Insel zu sehen. Beim Bier erzählt Hannes seinen beruflichen Werdegang. Ich frage tunlichst die Gäste nie danach, sie machen ja gerade Urlaub davon, aber für einen gelernten Schweißer habe ich ihn nicht gehalten, und es klingt durchaus interessant.

Für den letzten Abend habe ich mir noch einen echten Höhepunkt überlegt: Dageløkke. Da müssen wir erstmal hin – zwar sind es nur zwanzig Meilen, aber der Nordwest wird früh auf West drehen, dann ziemlich schwächeln und schließlich bei Südwest enden. Oliese läuft schon um fünf auf, die Anderen einigen sich auf sieben. Wir runden Agersø nördlich und können die Nordspitze von Langeland zunächst gerade so nicht anlegen. Der Wind ist aber enorm unstet: Mal fahren wir tolle 250 Grad mit zügigen viereinhalb Knoten, dann enttäuschende 220 Grad mit unfassbaren zweieinhalb Knoten. Die südgehende Strömung schiebt uns durch den Tiefwasserweg, versaut uns aber zusätzlich den Kurs. Westlich von Weg T ist auf einmal die alte Welle weg, und es läuft wesentlich besser. Im Ergebnis landen wir um zehn Uhr und ohne Holeschläge vor Lohals. Dort macht der Wind erstmal Pause, bevor sich, nein, kein Südwest entfaltet, sondern ein Süd. Wir segeln einen Schlag zum Leuchtturm Elsehoved auf Fyn, dann von dort in einer Rutsche ans Ziel.

Dageløkke gehört nun definitiv zu meinen Lieblingshäfen. Normalerweise propagiere ich die ja nur mäßig und bin froh, dass Paulas Blog nicht von Zehntausenden gelesen wird, damit wir auch in Zukunft jeweils noch eine Chance auf einen Liegeplatz haben – hier sehe ich das anders: Die Familie braucht Gäste, um Geld zu verdienen. Also kommt nach Dageløkke und berichtet all euren Freunden und Liegeplatznachbarn davon! Beim Hafengeldbezahlen erinnert sich Kim gleich an mich und freut sich, mich wiederzusehen in Begleitung zahlender Gäste und schöner Holzboote. Diverse Leute im Hafen sprechen mich an, haben „Folkeboot Paula“ gelesen, oder den Blekinge-Artikel in der YACHT, oder auch meinen Törnbericht „Reise zur Kanalinsel“ vor ein paar Jahren – mit diesem mäßigen Level an Prominenz kann ich gut umgehen. Nach Anlegebier, Baden, Landgang oder Mittagsstunde versammelt sich die wundervolle Gruppe im Restaurant zu einem abschließenden Gourmetabend mit Köstlichkeiten wie Wurstplatte, Käseplatte oder Salaten.

Es dämmert schon, als ich Papa, vierzehnjährigem Sohn und elfjähriger Tochter beim Handballtraining zugucke. Wolfgang ist aufgeschlossen – er war lange Jahre Jugendtrainer im Fußball. Die Mama spricht mich an, und ich gestehe, dass ich ein bisschen neidisch bin: Ich war als Jugendlicher in einem Leichtathletikverein. Mit fünfzehn oder sechzehn spielten viele meiner Schulfreunde Handball, und ich wollte das unbedingt auch, hielt mich aber für schon zu alt, um damit noch anzufangen – es blieb also bei Zugucken und Interesse. Das Mädchen spielt erst seit einem Jahr. Ihre Wurftechnik sieht überzeugend aus. Dass der Spielzug mit dem Rückhandanspiel nicht gelingt, liegt daran, dass der große Bruder Volleyball spielt und den Handball wegwirft statt griffbereit in die Höhe. Jedenfalls ist mir das Ganze höchst sympathisch.

Auch die letzten neun Meilen nach Thurø sind ein Genuss: Zwei Stunden entspannten, zügigen Segelns ohne Kreuz, ohne Hack, ohne Regen, gefolgt von stressfreiem Anlegen bei kaum Wind. Beim Aufklaren trifft das Kuchenbudenwetter ein. Die Gäste verkochen gemeinsam im Clubhaus die Reste ihrer Vorräte. Ich halte mich raus und besinne mich auf morgen: Ich bekomme es mit lauter Neukunden zu tun, drei gründliche Einweisungen und einmal ein zweitägiges Training. Ich kann aber Dirk, Sandy, Wolfgang, Anja, Hannes, Simone, Annette und Martin gar nicht dankbar genug sein für die schöne Zeit, die wir gemeinsam hatten. Das Wetter war nicht einfach, aber wir haben es geschickt genutzt. Die Törnplanung beinhaltete das eine oder andere Spektakel - ich finde sie ziemlich gelungen. Und mit allen Beteiligten würde ich jederzeit wieder auf Reisen gehen.

In den nächsten Tagen haben Paula und ich erstmal frei. Der Bart ist lang, Friedas Außenborder muss zur Reparatur, ansonsten können wir beliebig segeln, ohne dass ich den Großen Zampano spiele. Hm. Mal sehen, wie das gelingt. Ich könnte auch ein Fazit ziehen nach zwei kurzen Sommerreisen anstelle einer langen ganz nach Schweden. Geliebäugelt hatte ich damit schon im Herbst, dann hat die Buchungslage so entschieden – und ich bin sehr glücklich damit. Wir hatten Zeit für Abstecher in bisher unbekanntes Terrain abseits der direkten Route ins Kattegat. Dadurch konnten wir viele sehr schöne Orte, Inseln und Häfen erstmals erkunden. Statt eines Rückwegs unter Zeitdruck und mit Gegenwind sind wir jeweils in kurzen Schlägen entspannt ans Ziel gekommen. In einem so wechselhaften Sommer wären wir womöglich in den Schären nicht glücklich geworden und hätten uns eher nach Hause gequält.

Ich finde aber, nächstes Jahr steht mal wieder ein Besuch in den Westschären an…


weiter: Dreizehn
zurück: Es geht um die Wurst