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Der tägliche Siebtknoten

An jedem Segeltag zumindest ein Peak von sieben Knoten über Grund – ihr ahnt schon, dass wir reichlich Wind hatten. Als wir einmal nur 6,9 Knoten schafften, wurde es prompt mächtig zäh. Und dann passierte plötzlich alles gleichzeitig…

Juni 2025

Der große Pustefix bleibt stets in unserer Nähe. Unser Ziel ist auch auf dieser Reise wieder, nicht mit Vollzeug in DMIs dunkelblaue Böen zu geraten, sondern den obligatorischen Sturm in einem schönen, gemütlichen Hafen abzuwettern. Um die mittelblauen Böen (11-12 m/s) kommen wir nicht herum. Die Törnplanung erfordert Gehirnschmalz und Flexibilität – bei diesen Bedingungen ist das Timing wichtig, und wir werden jeden Joker ziehen müssen, der im Ärmel zu finden ist. Denn wir schippern nicht nur gemütlich in der Dänischen Südsee herum. Unser Ziel ist die felsige Wunderwelt nördlich von Göteborg, wo man nicht für fünf Minuten geradeaussegelt, immer etwas zu gucken hat – und auf keinen Fall einen Stein treffen darf. Um es vorwegzunehmen: Nicht nur kommen alle heil durch, sondern es wird rundum eine unserer gelungensten Reisen.

Doch der Reihe nach: Im sonnigen Arnis stehen acht vertraute Gäste und ich voller Tatendrang auf dem Steg und feiern das Wiedersehen, begleitet von siebener Böen aus Ost. Die Sommerreise soll endlich, aber kann vorerst nicht, losgehen. Als sich die Böen am späten Nachmittag mäßigen, huschen wir schnell noch rüber nach Maasholm. Es ist ein kurzer, aber kompletter Segeltag: Brückenpassage, Kreuz durch Rabelsund, kollektives Anlegen. Bei Stegbier und Streuselkuchen zelebrieren wir ihn, und ich begreife, wie gut, hilfreich und wichtig der heldenhafte Viermeilenschlag war: Ein Hafentag gleich zu Beginn hätte die Vorfreude gedämpft, womöglich einen ersten Hauch von Hafenkoller aufkommen lassen. Ich bin eben noch gemütlich nach Kappeln geradelt, um den Proviant zu vervollständigen, nun bin ich auf dem Weg in mein geliebtes Lieblingsrevier, begleitet von meiner hölzernen, schwimmenden Familie und Gästen, auf die ich mich seit September gefreut habe. Wir sind gesegelt, alle sind wieder mit ihren Booten vertraut, nach diesem gelungenen Auftakt sind wir bereit für weitere Abenteuer.

Ernst und ich kennen uns seit zehn Jahren, für ihn ist es die fünfte Wildgänse-Sommerreise, immer mit wechselnden Familienmitgliedern. Diesmal begleitet ihn Bruder Eckehard zu Beginn, Schwester Inge wird ihn nach einer Woche ablösen. Gerhard war einmal mit in den Westschären und danach in Blekinge. Bisher war er immer einhand mit Martha unterwegs, nun hat er Holger zum Mitsegler, das einzige neue Gesicht in der Gruppe. Angie und Karsten sind seit Jahren Fixpunkte in unserem Buchungskalender. Ralf und Steffi habe ich während der Pandemie kennengelernt, als sich nach Absage der Sommerreise eine Spontanflottille durch die Dänische Südsee ergab. Ralf war mit Sohn Timm vor drei Jahren schon mit in den Schären. Die meisten Teilnehmer kennen sich untereinander schon, ihr Boot sowieso – es kann nur harmonisch und seglerisch hochwertig werden. Den Außenborder haben wir nur für die Brücke gebraucht – in dieser Gruppe plant niemand, ihn regelmäßig oder gar täglich zu benutzen.

Dementsprechend legen am späten Sonntagvormittag alle unter Segeln ab. Die gewittrige Kaltfront ist durch (sagt das Wetterradar, uns hat sie komplett in Ruhe gelassen). Mit weiteren Schauern ist zu rechnen, Böen aber nur bis 12 m/s. Heute geht es nur nach Fyns Hav. Nicht schön ist es dort oder gar idyllisch, sondern zweckmäßig: Es ist ja schon spät am Tag, und irgendwann nach 16 Uhr wird der Wind fast einschlafen, weiter werden wir so oder so nicht kommen.

Zunächst will es gar nicht so richtig loslaufen, doch auf dem Bredgrund vor der Flensburger Förde haben wir West 5 und eine kräftige mitlaufende Strömung. Mit einem Schrick auf den Schoten fahren wir bis Mommark mit sieben Knoten über Grund. Auf der letzten Meile sind es nur noch 0,7 Knoten im beständigen Regen. Auch mal weniger. Auch mal 0,2 Knoten. Dann wieder 0,7. Dann sogar 1,1. Kurz vor der Außenmole, hinter der Frieda schon verschwunden ist, finde ich das schnell genug. Im Vorhafen markieren zwei Pfahlreihen, eindeutig rot und grün angemalt, den Weg zum Innenhafen und mahnen zu Abstand zu den Molen. An einem dieser Pfähle wartet Frieda darauf, dass Paula den Hafen auskundschaftet. Ernst hat die Farbgebung noch nicht erfasst und weist einer einlaufenden Yacht einen Weg zwischen Pfahlreihe und Mole. Also dort, wo es flach wird – die Yacht kommt fest. Aus Ernsts Sicht ist das ein unverzeihlicher Fehler, den er wiedergutmachen muss und wird. Aus Friedas Sicht dient das Ganze dem Zeitvertreib. Aus meiner Sicht darf ich bei einem überaus lustigen Spielchen nicht mitspielen. „Schräglage“, empfehle ich im Vorbeisegeln. Frieda krängt die Yacht frei und segelt dann hinter Paula her in den Hafen. Wir legen an. Alles ist nass, doch das ist schnell vergessen – der Regen hört auf, ein Sonnenstrahl zeigt sich, und Eckehard bedankt sich stellvertretend für alle für den tollen Segeltag.

Montag ist prächtiger Sonnenschein. Kurz nach dem Auslaufen ist dennoch schon wieder alles nass – hoch am Wind bei fünf Beaufort und beträchtlicher Dünung bleibt das nicht aus. Der Nordwest dreht erwartungsgemäß bald auf West, wir kommen nordwärts gut voran, ohne total gegen die Hoppelwelle anbolzen zu müssen. Westlich an Bågø vorbei wird es kurzzeitig kriminell: Wir müssen Höhe kneifen, und die mitlaufende Strömung erzeugt eine extrem steile Kackwelle. Paula hebt ein paarmal ab und kracht ins Wellental. Eigentlich kenne ich das schon: Am ersten Tag der Sommerreise 2012 (auch sie führte in die Schären) war das hier genauso, und damals dachte ich, ein Netz statt des Vorsegels hätte uns sicher einen schönen Fang beschert. Der Weg östlich an der Insel vorbei wäre also besser gewesen, das sollte ich mir für die Zukunft gut merken, aber letztlich klappt es ja, und wir fallen wieder ein paar Grad ab. Was ich nicht ahne: Unter der Backbordkoje hebt eine Flasche Multivitaminsaft ab und fällt auf einen Nietkopf. Feine Risse entstehen – und ein Glasspan, falls es so etwas gibt, guckt aus dem Korpus heraus. Als ich Tage später durstig nach einer vollen Flasche greife, schneide ich mir böse den Finger auf.

Im Snaevringen dann schiebt uns die Strömung gehörig. Zwischen der Autobahnbrücke und Striben haben wir wieder zehn Minuten lang unseren Siebtknoten, und dann sind wir auch schon am Ziel: Dem Gamle Havn von Fredericia. Ich war hier noch nie (Hurra! Mal wieder ein neuer Hafen!!), und er ist in keinem Hafenführer verzeichnet. Der NV-Verlag gönnt ihm einen Satz, aber keine Skizze. Zu finden ist er leicht, auf den Fotos im Internet sieht er hübsch aus und liegt direkt an der Innenstadt. Vor allem verspricht er bei dem böigen Westwind reichlich Abdeckung. Was ich nicht weiß, als Paula mutig mit dem Großsegel reinfährt, ist, wieviel Platz da ist. An sich genug, wie sich herausstellt, doch der Aufschießer gerät dynamisch, besser wäre wohl gewesen, nochmal abzudrehen, aber es geht nichts kaputt, allenfalls hat unser spöttischer Arnisser Stegnachbar etwas, worüber er ein bisschen spotten kann. Den Chartergästen empfehle ich Einlaufen mit der Fock, und das klappt super.

Außer zentral und bei Westwind geschützt ist der Hafen angenehm schraddelig und doch modern. Fredericia? Eine dänische Provinzstadt eben, die an Bedeutung eingebüßt hat und sich neu finden muss. Anders als das superschöne Middelfart gegenüber liegt die Stadt nicht direkt am Wasser, sondern da ist der ganze Öl- und Handelshafen vorgebaut. Es fehlt an Flair. Wiederum gibt es in Middelfart drei Häfen, von denen nur der Kongebro Havn empfehlenswert ist, und dieser hier ist es auch. (In beiden Städten gibt es zusätzlich noch eine fürchterliche Riesenmarina. Und die drei Häfen Middelfarts sind beide neben dem Westwind auch der Strömung ausgesetzt, da wären heute - wie meistens - Nervenstärke und Können gefragt.)

Nächster Halt: Tunø. Südwest 4 Böen 5, gelegentlich 6 – ausgebaumt wird es eine schnelle Reise, sobald wir die gegenläufige Strömung verlassen haben. Beim Surfen kommen wir mehrfach über sieben Knoten. Gar keine Frage, schon wieder ist das ein toller Segeltag. Letztes Jahr um genau diese Zeit waren wir auch auf Tunø, der Hafen halbleer. Diesmal sieht es erheblich voller aus. Das ist ein wichtiger Indikator, wenn man mit fünf Booten unterwegs ist: Wie viele sind jetzt, kurz vor der Hauptsaison, auf Törn? Muss ich jeden Nachmittag um Liegeplätze bangen, oder können wir unbeschwert einlaufen? 2025 war das Frühjahr kalt, nass und windig. Ganz viele haben ihren Törn früher abgebrochen oder gar nicht erst begonnen, deshalb war es erkennbar leer auf dem Wasser und in den Häfen. Dieses Frühjahr habe ich ebenso kalt, nass und windig empfunden und wundere mich ein wenig.

Wir fahren einen Aufschießer in der Einfahrt. Ich berge das Groß, binde Paula fest und sehe mich kurz um. Aha, da in der Puzzlecke…das muss gehen. Zwar ist die Pier nur für über zwölf Meter, aber wenn wir ein Päckchen bilden, sind wir ja über dreißig Meter. Ich ziehe Paula an Vor- und Acherleine hin, und mit den Schwestern machen wir es genauso, Aufschießer in der Einfahrt und den Rest von Hand. Mit Oli klappt das am besten: Angie gibt mir die Vorleine und birgt das Groß, Karsten steigt mit der Achterleine über, das Boot bleibt die ganze Zeit langsam in Fahrt. „Ich würde eins mittrinken“, sage ich, bevor jemand das Wort „Anlegebier“ erwähnt hat. Es wird aufgetischt, denn wir liegen ja gleich an den Tischen. Derart gestärkt bestehe ich den empfehlenswerten Balancierparcours auf dem Spielplatz.

Tunø ist eine wunderschöne Insel. Letztes Jahr – Ernst, Karsten und Angie waren dabei – hatten wir ausgiebig Zeit zum Landgang. Diesmal nicht: Wir wollen in Grenaa sein, bevor es ruppig wird. Wobei es genaugenommen nördlich von Grenaa den ganzen Tag schon ruppig ist, und die Stadt kriegt ein bisschen davon ab. Um neun Uhr legen wir ab, und das ist nicht ganz einfach: Paula, Oli, Frieda und Salty liegen im Päckchen, direkt daneben in Luv eine fremde Yacht. Martha liegt hinter Paula. Und hinter Martha liegt noch ein Spätankömmling, der auch keine zwölf Meter lang ist. Um den müssen wir herum. Der Wind hat gedreht und ist auflandig. Ich habe schon die halbe Nacht damit verbracht, keine Lösung für dieses Problem zu finden, doch jetzt ist es ziemlich schnell völlig klar: Drei verschiedene Wege führen aus der legerwallerigen Puzzleecke, und alle erfordern Teamarbeit.

Als Erstes müssen wir Martha loswerden. An der Vorleine ziehen wir ihren Bug entlang der Hecks ihrer Schwestern, geben ihr mit einer von Achterdeck zu Achterdeck weitergereichten Achterspring Schub, bis sie durch den Wind ist, abklappt und vor Topp und Takel lostreibt. Holger setzt die Fock, Gerhard beschließt, kühn gleich im Hafen auch das Groß zu setzen. „Schön, wenn was klappt“, sage ich grinsend. Für Salty habe ich einen anderen Plan: Mit der von Frieda aus bedienten Vorspring bekommt sie Schwung achteraus, die Ruderlage dreht ihr Heck in den Wind, mit ein bisschen Wriggen geht sie auf Kurs. Fock hoch, fertig. Mit Frieda machen wir es genauso. Der verbleibende Rest – Angie, Karsten und ich – dreht Oli und Paula im Päckchen um 180 Grad. Ein kurzer Sprint mit der Achterspring gibt sowohl den nötigen Schwung als auch die richtige Drehung, kurz wriggen, ein bisschen treiben, bei Gelegenheit die Fock hoch – kontrollierter und sicherer kann man aus einer Legerwallsituation nicht ablegen. Alle fünf Manöver haben tadellos funktioniert. Ein bisschen stolz bin ich auf die jeweilige Idee, die darauf beruht, dass ich inzwischen genau weiß, was ein Folkeboot macht, wie es sich verhält, welche Unterstützung es braucht, um zuverlässig loszutreiben. Aber ich bin auch stolz auf die Gäste, die dieses Wissen nur in Teilen besitzen und seltener praktizieren, aber ihren Part tadellos gespielt haben – da wurden wortlos Leinen weitergereicht, und jeder wusste, wie er daran ziehen musste. Egal, was noch passiert, schlecht kann der Tag nicht mehr werden.

Zunächst ist da eine holperige Dünung. Plötzlich ist sie weg, keine Ahnung warum. Mitlaufende Strömung, zeitweise sieben Knoten über Grund - aha, wir liegen gut in der Zeit. Heute zeigt sich aber besonders stark, wie überladen Paula ist. Durchweg mit guten, folkebooterfahrenen Seglern besetzt, sind die Charterboote erheblich schneller. Wir werden einen Trick brauchen, wenn die Gäste nicht ewig auf uns warten sollen, um nicht auf eigene Faust anlegen zu müssen – Anlegeservice gehört schließlich zum vertraglich vereinbarten Angebot. Zwischen Djursland und Hjelm wird es böiger. Und böiger. Und dann noch böiger. Und dann wieder nicht. Und dann wieder doch. Auf die letzten Meter haben wir wie befürchtet die dunkelblauen Böen, die wir vermeiden wollten. Heute ist da nunmal nichts zu machen. Bei halbem Wind gibt es auch keine Möglichkeit, den Druck rauszunehmen. Gerne würde ich anluven, doch da ist der Strand. Paula wählt nämlich eine Abkürzung dicht unter Land, während die Schwestern im großen Bogen östlich an allen Untiefen vorbeisegeln und danach nochmal richtig Höhe laufen müssen (oder dürfen). Unser Trick funktioniert: Wir treffen Martha und Frieda heil und bestens gelaunt vor der Hafeneinfahrt. Nun müssen wir nur noch einlaufen, Plätze finden und anlegen.

Martha macht vor, wie das geht: Sie segelt mit Vollzeug in den Hafen. Das Groß geht runter, dann die Fock, dann bewegt der Mast sich nicht mehr – sie ist sicher irgendwo fest. Ich habe den Außenborder in Erwägung gezogen. Nun berge ich vorm Hafen die Fock, wie ich das immer mache, und dann kreuzt Paula rein, aha, gleich eine Windstärke weniger, sie wendet, guckt sich um, findet einen perfekten Pfahl für einen gelungenen Aufschießer. Plätze für alle am gleichen Steg gibt es auch.

Über Grenaa wiederhole ich gerne, dass ich den Hafen beim ersten Besuch nicht ausstehen konnte und seitdem liebgewonnen habe. Das ist unumgänglich, denn immer wieder landet man hier: 2012 waren Paula und ich viermal hier, keinmal davon war vorher geplant. 2019 dann die Grenaaer Woche, als wir fünf Tage lang eingeweht waren. Diesmal ist nach vier strammen Segeltagen eine Pause nicht unwillkommen, Zwar pustet es, doch die Sonne scheint, und der Fischladen zieht die Gäste magisch an. Abends nutzen wir die vorzüglichen Faszilitäten zum Grillabend. Fisch, Fleisch und Gemüse sind ausgezeichnet, doch mein Favorit ist Steffis Salat mit Grünzeug, Tomaten, Mozzarella und – als Clou – köstlichen Erdbeeren!



Anholt ist das nächste Ziel. Reichlich Kopfzerbrechen: Angekündigt war mal Nordwest mit Böen 6, abnehmend Böen 5, und das ist totaler Mist, weil man dann mit Rückenwind zwischen die Stege fährt, reichlich Schub bekommt und irgendwie so eine blöde Heckboje erwischen muss, wofür es in einem latent vollen Hafen auch nur einen einzigen Versuch gibt vor dem Versicherungsfall. Paula und ich waren bisher sechsmal auf Anholt, davon dreimal in Begleitung der Charterboote. Einmal haben wir bei schwachem Ostwind am Kopf der Zwischenmole vor Heckanker gelegen. Viermal ging etwas kaputt. Nur vor drei Jahren war es bei einschlafendem Wind im halbleeren Hafen totales Easygoing. Danach sieht es beim Briefing vor dem Grillen nicht aus. Ich habe schon in Erwägung gezogen, südlich der Insel zu ankern und durch die Nacht weiterzusegeln, sobald es dort nach einem Dreher auf West unruhig wird. Die kürzeste Nacht des Jahres segelnd zu verbringen, wäre eine großartige Sache – doch das Thema erledigt sich mit einer Prognose von vorübergehend siebener Böen.

Wir besprechen also den Baukasten von Möglichkeiten, vor Topp und Takel treibend die Fahrt zu reduzieren: Pütz als Treibanker, Vollruderausschläge, Motor im Rückwärtsgang. Ist alles nicht nötig: Wir legen gesittet ab, segeln mit erneut bis zu sieben Knoten nach Sicht auf den Windpark zu und mitten durch. Dann sind es nur noch zwei bis drei Windstärken, aber wir sind ja fast schon da. Im Hafen weht ein laues Lüftchen, er ist höchstens zu einem Viertel belegt, fünf Folkeboote segeln und wriggen unbeschwert umher und suchen sich elegant ihren Lieblingsplatz aus. Wir wählen einen freien Stegkopf: Niemand kann uns mehr zuparken im Hinblick aufs Ablegen. Wenn man im Wesentlichen an feste Pfähle gewöhnt ist, ist es total witzig, sich an so einer wabbeligen Boje festzuhalten.

Anholt ist nicht einfach nur einen Besuch wert. Der Hafen hat Flair, die Insel ist einzigartig, die Schönheit der Natur atemberaubend. Spätestens der Blick auf den inzwischen vertrauten Strand bestätigt mir das. Den Hafentag hier zu verbringen statt in Grenaa, wäre umwerfend gewesen statt nur okay an der Grenze zu überaus gelungen – aber das konnten wir uns nicht aussuchen. Unser Ziel sind und bleiben die Schären. Ausgiebiger Landgang ist nicht drin, ich schicke die Gäste um der Aussicht Willen auf den Nordbjerg und gönne mir Fish&Chips und ein gezapftes Tuborg Classic. Es ist auch gar nichts kaputt gegangen – Angie würde sagen: „Wir haben schon wieder kein Boot gerammt.“ Im Gegenteil, es läuft total fluffig. Bisher habe ich einen Benzinschlauch in Friedas Außenborder mit einem neuen Kabelbinder fixiert, weil da Benzin austrat, und einen Tenaxknopf an Olis Fock wieder festgezogen. Die beiden Ringsplinte, die auf Saltys Deck herumlagen, haben wir wieder montiert, bevor alles auseinanderflog. Marthas Außenborder machte zweimal Zicken, doch es handelte sich um Bedienungsfehler. Und wir genießen den Abend vor Mittsommer auf einer der schönsten Inseln, die man in der Ostsee finden kann.

Dann geht es weiter nach Varberg. Nachts Böen sieben, morgens noch Böen sechs, es steht ein bisschen Welle auf der Hafeneinfahrt. Die modernen Yachten, die vor uns auslaufen, lassen vermuten, dass es da gehörig hoppelt und knallt. Nachmittags nur noch zwei bis drei Beaufort im Verlauf der Strecke – ich fände acht Uhr ablegen ideal und verkünde neun, doch dann beschließen wir, noch eine Stunde zu warten, bis der Wind nachlässt. Die Welle ist natürlich unverändert. Das Ablegen gelingt…welches ist wohl das richtige Wort? „Smooth“ finde ich treffend: Beide Segel hoch, Schoten dicht, ein bisschen abstoßen – fährt schon. Einfach ganz von selbst. Ich stehe am Want, recke die Arme in die Höhe und bin begeistert. Die Gäste auch, und auch ihnen gelingt dieses Manöver. Sanft ein bisschen hoch und runter geht es aus der Einfahrt. Eine oder zwei Stunden früher bei einer Windstärke mehr wäre das genauso gut gegangen. Aber ist jetzt so. Wir segeln uns frei von den Untiefen, gehen auf Nordkurs, dann Nordostkurs. Reichlich Dünung, guter Speed – doch das Maximum sind nur 6,9 Knoten. Nicht 7. Es wird zäh werden!

Mit Ernst unterhalte ich mich viel über die Vorzüge und Nachteile – nein: die Eigenschaften – verschiedener Bootstypen und -klassen. Heute beim Auslaufen hat sich zum Beispiel im Vergleich mit der erbärmlich hoppelnden und hüpfenden Pogo gezeigt, wie gut Folkeboote mit der Ostseewelle klarkommen. Größere Yachten haben natürlich den Vorteil, dass sie auch mal acht Knoten oder mehr schaffen und dem Ziel deutlich näher sind, wenn der Wind irgendwann schwächelt. Aber viele von denen werfen sowieso gleich den Diesel an, wenn ihren etwas nicht gefällt – damit wollen wir uns nicht vergleichen.

Zwei Drittel der 35 Meilen sind geschafft. Nach den 6,9 Knoten zu Beginn waren es lange viereinhalb, dann um die drei. Mächtige Dünung, alles schlägt und klötert, die Sonne knallt, von der Küste ist noch nichts zu sehen. Kein Anzeichen einer Seebrise oder sonstigen Windes. Kein Netz, um in der Internetprognose Hoffnung zu schöpfen. Zwei Knoten. Paula und ich beschließen, den Segeltag für beendet zu erklären und dem neuen Außenborder Betriebsstunden zu schenken. Frieda und Salty folgen dieser Idee. Martha und Oli sind ein bisschen zurück, hören den Funkspruch nicht oder gehorchen ihren trotzigen Gästen – sie segeln weiter.

Das Groß bleibt oben. Zunächst schlägt es – die leichte Brise ist gegenan -, dann steht es und zieht ein bisschen mit. Nach zwei Stunden sind wir an der Ansteuerung. Da ist Gekräusel, da sind andere Boote munter segelnd – das machen wir auch und gönnen uns noch eine Dreiviertelstunde Spaß nebst Anlegen unter Segeln. Halb sieben scheint mir eine vernünftige Zeit, den Hafen zu erreichen. Inge steht winkend auf der Mole – heute wird sie ihren Bruder ablösen. Wir beweisen, dass auch Folkeboote mit ihrem Außenbörderchen genauso schnell motoren können, wie sie andernfalls segeln würden!

Brauchen sie aber gar nicht zwingend – diesen Beweis erbringen Oli und Martha. Nach Stunden kommen sie pünktlich zum Sonnenuntergang in den Hafen gesegelt. Oli schafft es mit dem letzten Schluck Wind an den Liegeplatz. Martha muss wahrhaftig noch die hundert Meter um die Innenmole herum motoren. Es ist Mittsommer, und wir sind in Schweden! Eigentlich müsste das gefeiert werden, doch kaum sind die beiden festgebunden, machen wir sofort Briefing – morgen ist ein langer Tag mit frühem Auslaufen. Uns sitzt da ein bisschen viel Wind im Nacken, und wir sind ja längst nicht am Ziel. Ja, in Schweden, das schon, aber wir wollen doch in die Schären.

Von Varberg mit Nordkurs in leichter Morgenbrise zeigen diese sich zunächst locker verteilt, allmählich markanter, bis sie dreißig Meilen weiter nördlich die Landschaft eindeutig prägen. Der Wind nimmt zu, die Strömung läuft mit, die letzte Stunde sind es fast kontinuierlich unsere obligatorischen sieben Knoten, und dann legen wir in Donsö an. Dorthin haben wir uns vor drei Jahren schon vor abendlichem Unwetter geflüchtet. Das Anlegen ist diesmal etwas chaotisch. Gerade ist großes Kommen und Gehen, und aus einem Grund, den ich nicht herausfinde (Strömung?) sind die ersten beiden Aufschießer erheblich zu schnell. Während Paula kringelt vor dem dritten Versuch, legt eine andere Yacht am leeren Steg an. Unser Aufschießer ist diesmal perfekt – doch leider lassen die Leute auf dem Steg die Yacht zurücklaufen, anstatt sie nach innen durchzuziehen. Als ich rufe, gibt der Rudergänger Voraus, das Schraubenwasser drückt Paula weg. Beim nächsten Kringel ist es dann Oli, die uns in die Quere kommt. Endlich legen wir wirklich an. „Sorry“, sage ich zu der perplexen Dänin, die die Vorleine annehmen wollte, „but I had to do it my way.“ My way, das bedeutet einen Sprung auf den Stegkopf, um dann anderthalb Knoten Restfahrt von Hand aufzustoppen. Jemanden, der an der Vorleine zieht und im Weg steht, konnte ich dabei nicht brauchen.

Donsö liegt in den südlichen Ausläufern des Schärengartens und gehört zum Speckgürtel Göteborgs, mit Fährfährbindung in die Stadt. Angie und Karsten freuen sich sehr, erneut die schöne Insel zu besuchen. Ich kann dazu gar nichts sagen – vor drei Jahren war ich anderweitig beschäftigt. Der Hafen ist bestenfalls okay bis nett, aber wir sind ja nicht nur zum Spaß hier, sondern auch heute sind abends und nachts Regen und Wind, möglicherweise Blitz und Donner zu erwarten – das möchten wir nicht gerne an einer Schäre abwettern. Letztlich vergeht eine Stunde damit, dass alle an meinem Laptop sicherheitshalber ihren Liegeplatz im nächsten Hafen reservieren. Kaum ist das erledigt, setzt leichter Regen ein, der mich auch diesmal vom Landgang abhält. Abends wird es wieder trocken, morgens ist perfekter Segelwind.

Auslaufen kurz vor sieben hat natürlich einen triftigen Grund – heute kommt es mal wieder aufs Timing an: Am frühen Nachmittag erwarten wir zuerst eine gewittrige Kaltfront, nachfolgend für mindestens 24 Stunden Sturmböen bei strahlendem Sonnenschein. Gegen 15 Uhr kommt die Front, mit einer Stunde Puffer müssen wir spätestens 14 Uhr, besser 13 Uhr im Hafen sein. Wie lange brauchen wir für 24 Seemeilen? Zwischen dreieinhalb und sieben Stunden. Steffi entgeht dieses Spektakel, sie hat einen wichtigen Termin zu Hause und reist mit der Fähre ab. Ralf ist von nun an Einhandsegler. Wir legen kommod ab in einer leichten Morgenbrise und kreuzen zum Hauptfahrwasser. Als wir den Rivö Fjord queren, den Hauptzugang nach Göteborg für die Großschifffahrt, sind wir schon bei Süd 4 Böen 5. Wieder eine schnelle Reise also, wieder mit Siebtknoten, als wir das Chaos aus Schären, Orten, sausenden Fähren und Fahrwasserknicks zwischen Rivö Fjord und Kallö Knippla verlassen und wieder etwas offeneres Wasser haben.

Die fünf Boote segeln irre dicht zusammen. Bei fast jeder Gruppe wäre mir das ganz und gar nicht geheuer, mit diesen Gästen ist es total cool. Alle passen aufeinander auf, jedem ist klar, dass eine kleine Unaufmerksamkeit üble Folgen haben könnte. Beim Gegenverkehr kommt das wilde Spektakel gut an, wir werden fotografiert und bekommen den Daumen nach oben gezeigt. Unser Weg führt östlich an Klåverön vorbei und dann von Südwesten nach Marstrand. In diesem sehenswerten Ort können wir den unvermeidlichen Hafentag mehr als gut verbringen. Ich bin kein großer Freund im Voraus gebuchter Liegeplätze, doch diesmal macht es Sinn: Es war gestern schon sicher, dass wir ankommen würden, doch mit dem Wetter im Nacken hätten wir jetzt keine Zeit, eine Alternative zu finden. Zumindest kann ich den Segeltag viel besser genießen ohne die Sorge um Liegeplätze im Hintergrund. Wir wissen sogar schon, welcher Steg und welche Seite.

Die Großsegel sind bei allen geborgen, die Charterboote halten Abstand, um Paula vorzulassen - wir müssen nur noch anlegen. Paula segelt mit der Fock bei halbem Wind und vier Knoten ins Becken. Scheint mir extrem schnell, also Fock runter. Leider doch etwas zu früh, ich muss gehörig wriggen, um ans Ziel zu kommen. Martha folgt uns. Zunächst viel zu schnell, Holger reißt die Fock unter, Gerhard dreht das Boot in den Wind – Martha bleibt sofort stehen. Wriggen lässt sich da nichts, also Fock überholen und wieder hoch damit, raus aus dem Hafen und neuer Anlauf. Eine dunkle Wolke verdeckt die Mittagssonne. Und dann passiert alles gleichzeitig.

Marthas zweiter Anlauf klappt besser. Holger steigt aus dem Cockpit. Ich erwarte, dass er mir die Vorleine zuwirft. Doch Gerhard befürchtet, erneut zu verhungern und wegzutreiben – er schickt Holger auf den Fingersteg. Dass die Dinger beim Betreten ein Stück eintauchen, habe ich beim Briefing erwähnt, doch wie jeder kann auch Holger sich nicht jede Detailinformation merken und ist nicht darauf gefasst. Er hat es auch zu eilig, um darüber nachzudenken, dass das nasse Holz voller Moose und Flechten rutschig sein dürfte. Er springt. Tänzelt. Rutscht. Und fällt ins Wasser. Ich schnappe mir erstmal Marthas Vorleine. Kurz darauf habe ich auch Saltys Vorleine in der Hand. Oli kommt dazu, wenn schon so dicht hinter Salty, dann zum Glück mit laufendem Motor, denn in ihrem Liegeplatz hängt Holger japsend am Fingersteg.

Ralf und Gerhard beschäftigen sich damit, Achterleinen anzuknüppern. Völlig unnötig jetzt: Die Boote liegen im Wind, können weder schwojen noch vertreiben - nur kann ich an meinem Standort keine der Vorleinen belegen, mich also nicht vom Fleck bewegen. Holger hält sich sicher fest, aber er kann nicht ewig im Wasser bleiben. Ich brauche Unterstützung. Kurzzeitig bin ich ein bisschen gestresst. „Lasst das nach jetzt und kommt an Land“, brülle ich. Eine halbe Minute später sind wir immerhin schonmal so weit, dass wir die Boote provisorisch anbinden können. Ralf und ich haben nun beide Hände frei, um uns im Holger zu kümmern. Unter seiner Öljacke löst die Rettungsweste aus. „Was ist das denn jetzt?“, fragt er. Ralf und ich schnappen uns jeder einen Arm, zerren ihn ein Stück in die Höhe. Seine Füße finden Halt. Erleichtert steht er auf dem Schwimmsteg. Wie zum Hohn setzt großtropfiges Geprassel setzt ein. Holger ist sowieso komplett nass – ich lasse ihn stehen und düse unter Deck, um mir Ölzeug anzuziehen, kichernd und prustend nach all der Aufregung.



Kaum haben wir alles aufgeklart und die Kuchenbuden aufgebaut, zieht erstmal die Front durch mit einem herzhaften Gewitterschauer. Es ist 13 Uhr – unser Timing hat uns wieder einmal nicht im Stich gelassen. Kaum sind die Wolken durch und die Sonne kommt raus, beginnt es wie der Teufel zu pusten. Sturmböen von der Seite? Ich bestehe darauf, dass die Kuchenbuden spätestens zum Schlafengehen abgebaut werden. Bei einem abendlichen Spaziergang müssen wir uns gehörig gegen den Wind stemmen, um voranzukommen. Die Welle ist gar noch nicht spektakulär – sie braucht ein paar Stunden Sturm, um sich mit dem langen Anlauf von der Nordsee her vollständig auf die angekündigten vier Meter aufzubauen. Wir entdecken aber auch einen hübschen Weg durch kleine Täler und tapfere Wäldchen rauf in den äußeren Festungshof und von dort zurück zum Hafen.

Nicht immer ist ein erzwungener Hafentag das Highlight der Reise – diesmal ist es der Fall. Zweimal haben wir in Marstrand Crewwechsel gemacht, der letzte ist sieben Jahre her. Das bedeutet auch: Sieben lange Jahre musste ich ohne die weltbeste Konditorei auskommen. Natürlich habe ich sie den Gästen empfohlen, Gerhard kommt mir freudestrahlend entgegen, als ich in der Morgensonne entlang der Promenade dorthin pilgere. Allein die Promenade ist schon sehenswert, der historische Ort mit seinen hübschen Holzhäusern und gepflegten Vorgärten sowieso. Ich erbeute ein Brot, zwei Stück Wienerbröd Vanille und zwei Hefeteigstücke mit Apfelfüllung. Um elf bricht die gesamte Gruppe zu einem gemeinsamen Spaziergang um die Insel auf.

Der Uferweg ist vorbildlich ausgebaut und beschildert. Die Brandung ist…nein, nicht spektakulär, sie ist unbeschreiblich. Stellenweise kommen wir so dicht ran, dass wir geduscht werden. „Tief einatmen, das ist gut für euch“, empfehle ich. Alle fünf Fotos muss die Linse von der Salzgischt befreit werden. Während an den äußeren Felsen der Teufel los ist (hier sind wir gestern noch seelenruhig reingesegelt), zeigt sich kaum fünfzig Meter zum Inselinneren das eine oder andere friedliche Biotop mit Seerosen in voller Blüte. Es ist ein Erlebnis, wie man es nicht jede Woche geboten bekommt – für uns alle ist es das erste genau dieser Art.

Nach so viel Wind und Lauferei pausieren wir an der warmen, sonnigen Leeseite von Marstrandsö und machen uns gierig über Karstens Erdnüsse her, bevor wir im Inselinneren entlang von Grotten, Wäldchen und Aussichtspunkten zur Festung aus dem 17. Jahrhundert aufsteigen. Heute ist sie eine prägende Landmarke und weist aus allen Richtungen den Weg. Ihre Historie wäre allein schon einen ausführlichen Bericht wert: Bau, strategische Bedeutung, Belagerungen, aber auch die Geschichte der hier inhaftierten Sträflinge. Einer davon war Lasse-Maja, ein Dieb in Frauenkleidung und Held in der schwedischen Legendenbildung. Die Fähre, die Marstrand mit Koön verbindet, heißt nach ihm, und es gibt auch eine entzückende Kinderserie, in der die zehnjährigen Lasse und Maja ein Detektivbüro betreiben und knifflige Fälle lösen. Wir hingegen sind vor allem beeindruckt von dem Wind, der hier, hoch über dem Wasser, nochmal gute zwei Windstärken doller bläst – einfach stehenzubleiben, ohne sich irgendwo anzulehnen oder festzuhalten, ist völlig unmöglich bei geschätzten 11 Beaufort.

Inge spricht aus, was alle denken: Wir sind müde und erschöpft und haben genug erlebt, um kein weiteres Kulturprogramm mehr aufnehmen zu können. Ich kaufe schnell noch frischen Fisch fürs abendliche Curry, dann krieche ich für zwei Stunden in die inzwischen im Schwell merklich schaukelnde Koje. Am nächsten Tag können wir wieder segeln, allerdings nicht ganz beliebig. Fürs abendliche Briefing brauchen wir einen plausiblen Plan. Und den setzen wir dann auch am Mittwochmittag um.



Ich bin mir bewusst, dass hauptsächlich ich derjenige bin, der dazu neigt, das Gelingen einer Reise nach Bohuslän mit der Anzahl der an einer Schäre verbrachten Nächte zu messen. Den Umständen und Windverhältnissen geschuldet, kam das bisher zu kurz – und das ist überhaupt kein Manko, wir hatten schönstes Segeln und sichere, gemütliche Häfen, aber um die Sache rund und komplett zu machen, habe ich mir zum Abschluss zweimal Schärenankern vorgenommen. Der Sturm ist vorbei, es sind nur noch West 4 Böen 5-6. Donnerstag kommt der Wind aus Südsüdwest, wir brauchen also eine Schäre, die bei beiden Richtungen ruhig und sicher ist. Mit zunehmendem Alter und der Erfahrung all der Sommerreisen mit Chartergästen bin ich umsichtiger geworden: Vor Jahren hätte ich wahrscheinlich propagiert, ein Stück nach Norden zu segeln. Doch in den dortigen Fjord dürfte noch eine mächtige Dünung laufen, genau wie in die südwestliche Ausfahrt, durch die wir hergekommen sind.

Wir ziehen also den Joker des Albrektsunds Kanal nach Südosten raus. Keine Welle hier, mit diversen Halsen hangeln wir uns im Pulk durch den engen Schlauch. An seinem Ende luven wir an und segeln mit halbem Wind auf Vaxholmen zu. Nur vier Meilen und eine Stunde, kurz und knackig, außerdem ein Ortswechsel, ein Kontrastpunkt - und nun das Unterfangen, heil und sicher an die Schäre zu kommen. Ich lege Paula erstmal vor Anker, mache das Schlauchboot klar, bringe eine Vorleine nach Land, ziehe die Gefährtin ans Ufer und lege den Anker um aufs Heck – die Schwestern können kommen. Manche müssen es zweimal anfahren, doch niemand benutzt den Außenborder! Es ist mal wieder perfektes Teamwork, jede und jeder helfen mit, bis Martha als letztes Boot im Päckchen liegt. Es bleibt reichlich Zeit für Baden, Ausruhen, Inselerkundung – und gute Gespräche. Auch will der Weg zur Komposttoilette, die sich in einer Baumgruppe versteckt, gerne schon ausgekundschaftet sein, damit der frühmorgendliche Gang nicht zu viel Zeit kostet.

Zwischendurch telefoniert Ernst mit seiner Frau. „Ganz, ganz ganz ganz toll“, höre ich ihn sagen, „ein Hochgenuss.“ Auch ich empfinde diese Reise bisher besonders gelungen. Nun – nach vielen intensiven, besonderen, unvergesslichen Erlebnissen – kommt der eigentliche Höhepunkt. Ernst nennt ihn „das Filetstück“: Zwischen Marstrand und Gullholmen liegt der engste, kurvenreichste, felsigste, anspruchsvollste und aufregendste Teil des Schärenfahrwassers. Geschützte Becken und enge Sunde wechseln ab mit offeneren Passagen, hinter jeder Biegung passiert etwas, jede Minute muss man ein neues Seezeichen finden und zuordnen und nebenbei noch ein, zwei Halsen fahren – Segeltage können sehr unterschiedlich sein, aber nirgendwo ist es so spannend und kurzweilig wie hier. Mit den treuen, tapferen Booten bin ich zum fünften Mal hier. Die Gäste sind mir über Jahre ans Herz gewachsen. Gemeinsam genießen wir jetzt das Abenteuer – ich bin ein sehr zufriedener Mensch.

Diese Strecke ließe sich mehrfach unterteilen, überall laden Ringe an geschützten Felsen zum Übernachten ein. Doch es ist schon Donnerstag, Freitag/Samstag ist Crewwechsel. Und weil es dann hier draußen am Skagerrak schon wieder mächtig pustig wird, haben wir uns für Uddevalla entschieden. Unsere Übernachtungsschäre – Hundspallen bei Dragsmark – liegt schon in der Reihe geschützter Fjorde nordwestlich der großen Insel Orust, die uns dorthin führen wird. Dort können wir noch ein bisschen segeln, wenn es draußen schon zu windig ist – ein weiterer Joker aus dem Ärmel. Ich fürchte nur, dieser Part wird kein Genuss, sondern ausschließlich ein Mittel zum Zweck.

Wir haben perfekte Bedingungen erwischt für die insgesamt 35 Meilen: Südwest 4 Böen 5-6 versprechen eine Rauschefahrt wie in einem schnell geschnittenen Actionfilm. Wir können jede Krümmung und Biegung anlegen – bei Gegenan könnten wir die schönsten und engsten Sunde nicht segeln, sondern müssten außenherum kreuzen. Vorfreudig legen wir kurz nach halb neun von Vaxholmen ab. Von Anfang bis Ende bleibt kein Boot zurück – wir segeln im Pulk. Manchmal kann Paula sich ein paar Bootslängen absetzen, doch meistens ist es eher so, dass die Gäste die Schoten dichtnehmen oder Schlangenlinien fahren. Paulas Rolle als Lotsenboot möchte niemand übernehmen. Zum Glück bin ich hier oft genug durchgesegelt, um nicht dauernd am weiteren Verlauf zu verzweifeln. Zwei, drei Tonnen, Baken oder Leuchttürme in der Seekarte kann ich mir merken, finde sie in der Realität, und während wir sie absegeln, habe ich schon wieder die Lesebrille auf, studiere die Karte und präge mir die nächsten drei Landmarken ein. Viel zu schnell vergeht die Zeit.

Hochgenuss? Filetstück? Nichts auf der Welt macht mehr Spaß als dieser Segeltag! Bei Gullholmen biegen wir ab ins Innenfahrwasser. Die Bewaldung nimmt zu, der Wind ab, hier und da haben wir gehörig Abdeckung. Ich bin über langsame Fahrt und Zeit zum Kartenstudium nicht böse, denn hier kenne auch ich mich nicht gut aus: Vor vierzehn Jahren war ich schonmal in dieser Gegend. Damals – an einem trüben Tag – war ich von der Landschaft und dem Segeln eher enttäuscht. Darüber hinaus erinnere ich mich an nichts. Auch nicht an die Seilfähre, die vor den fünf gemächlich herantreibenden Folkebooten hastig ablegt und rübertuckert. Husch – die nächste Bö macht uns wieder richtig schnell. Wir kringeln. Laut Seekarte muss man zum Bug oder zum Heck der Fähre 200 Meter Abstand halten, um nicht an ihrem Seil hängenzubleiben. Mir scheint die gesamte Fährstrecke nur knapp 200 Meter lang zu sein, also können wir erst durch, wenn sie angelegt hat.

Nach sieben Stunden erreichen wir Hundspallen. Die Chartergäste müssen zum Zeitvertreib in der Bucht herumschwirren. Zunächst finde ich weder die Ringe noch die tiefe Stelle am Ufer. Immerhin bietet der steile, baumbestandene Felsen gute Abdeckung. Ich werfe den Heckanker, berge die Segel – und packe außer den Teddys alle meine Spielsachen aus: Zunächst gelingt der erste Versuch, mit dem Enterhaken eine provisorische Landverbindung herzustellen, ganz vorzüglich. Doch Paula lässt sich nicht an den Felsen ranziehen. Nein, es liegt nicht am zu knapp belegten Heckanker. Es ist einfach zu flach. Also packe ich das Schlauchboot aus, es wird als Seilfähre dienen. Oder? Eine Kammer ist schon aufgepumpt, als ich die Ringe entdecke und einsehe, dass wir einfach fünfzehn Meter nach Osten müssen. Anker wieder auf, Fock wieder hoch. Anker ins Wasser und Fock aufs Deck. Die letzten Meter lassen sich prima wriggen, so gut ist die Abdeckung. Wir liegen sehr gut beim aktuellen Südwest und werden es auch beim morgigen Süd tun – die Schwestern kommen ins Päckchen.

Ein bisschen schade finde ich, dass es nur zwei Schärenübernachtungen werden, aber nur aus einem einzigen Grund: Ich hätte gerne mehr Routine darin, würde gerne ein paarmal öfter an den Felsen heranwriggen oder treiben, den Enterhaken ein bisschen häufiger ausprobieren. Die Gäste hingegen waren gut zufrieden mit den bisherigen Häfen. Und ich bin es auch. Hier gibt es nicht einmal eine Komposttoilette. Aber an Land ist der Platz noch viel schöner, als er vom Wasser aus wirkte. Mindestens ist das standesgemäß für den seglerischen Höhepunkt der Reise. Ungestört sind wir auch. Und es ist wirklich schön gemacht: Neben einem Podest für den bequemen Ausstieg enthält der Felsen eine Art Bank fürs Anlegebier. Wir hatten mal eine Sommerreise mit dem running gag: „Ich werde mich bei der Kurverwaltung beschweren.“ Die Kurverwaltung in Dragsmark gilt es absolut zu loben.

Von der Abreise trennt uns vermeintlich nur noch das unvermeidliche Pflichtprogramm der letzten fünfzehn Seemeilen – wie könnte ich ahnen, dass es erneut extra special wird? Vor dem Wind kommt der Regen, und zwar schon abends. Das ist egal, müdegesegelt gehen wir sowieso früh in die Koje, zumal die Umstände ein frühes Auslaufen erfordern. Denn erstens drohen ab zehn Uhr dunkelblaue Böen auch hier drinnen, zweitens gibt es in Uddevalla nur vierzehn Gastliegeplätze, von denen wir welche ergattern wollen, bevor es andere tun. Viertel vor sechs nutzen wir eine kurze Regenpause zum Klarmachen der Boote. Den letzten Schauer verbringen wir unter Deck, um halb sieben treibt auch das letzte Boot in der Flaute, und die Brise setzt ein. Der Fjord ist mystisch wolkenverhangen, im Westen zeigt der Himmel schon Struktur, später wird es aufklaren. Einstweilen denke ich: Wenn man Norwegen nicht ganz schafft, ist das hier ein ausgezeichneter Ersatz.

Wir schlängeln uns zwischen einer Inselgruppe hindurch. Ich bin noch nie an einem Reh vorbeigesegelt, hier grast Bambi am Ufer. Ich verzichte darauf, ihm „klar zur Wende“ zuzurufen und zu horchen, wie es antwortet. Plötzlich kein Wind, dann welcher von hier, da und dort – kaum sind die Schoten dicht, können sie auch schon wieder gefiert werden, doch letztlich ist es egal, weil wir sowieso keine Fahrt haben. Bis eine Fallbö uns wieder in Rauschefahrt versetzt. Es ist megaspannend, hier einen Weg zu finden – vom mäßigen Mittelwind kommt fast nichts an, dafür kommen die Drücker richtig ruppig. Der Havstensfjord ist dann erheblich großflächiger, der Wind dort eine stetige fünf. Byfjord, Brücke und Handelshafen Uddevalla sind in Sicht.

Nur noch Einlaufen und Anlegen. Hm. Mit frischem Rückenwind in eine enge Flussmündung mit begrenztem Platzangebot reinzurattern, klingt an sich schon nach Nervenkitzel. Dann kommt uns nach und nach ein unglaublich riesiges Feld von Regattateilnehmern entgegen. Ich wundere mich: Jedes Boot startet einzeln, mit Countdown per Funk und eigenem Startschuss. Ich registriere das eher am Rande – hauptsächlich bewegt mich die Frage, ob womöglich der ganze Hafen für die Regatta reserviert ist und wir überhaupt keine Liegeplätze vorwinden werden.

Es passt ganz vorzüglich: Die Regatta segelt woandershin, die Boote kommen nicht wieder. Und weil gerade die letzten abgelegt haben, ist der Hafen nun angenehm leer. Wir haben es geschafft. Also nicht nur den Absprung von der Schlei und das Erreichen des Ziels: Vor allem die Tage und 300 Meilen dazwischen waren – wieder einmal – absolut bemerkenswert, vielleicht unsere gelungenste Reise. Jetzt freue ich mich auf die Fortsetzung mit der neuen Gruppe.

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